Musical Tournee-Produktionen in Deutschland
Plagiate bekannter Musicals: Original oder Fälschung?
Nicht immer spielen in deutschen Landen Musicals über Jahre hinweg in auf das Stück optimal angepaßten Theatern. Oft ziehen bekannte Produktionen nur für kurze Zeit in nicht ganz so ehrwürdige Hallen ein, um den Besuchern das Geld aus den Taschen zu ziehen. Aber wer möchte nicht einmal in den glanzvollen Genuß einer Broadway-Inzenierung vor der eigenen Haustür kommen. Dabei setzen die Tourneeveranstalter auf bewährte Musical-Produktionen, wie Hair, Evita und Jesus Christ Superstar. In verständlicherweise abgespeckten Versionen kann man hier zumindest einen Eindruck von der großen, weiten Welt des Musical-Theaters bekommen. Und auch wenn die Kulissen wackeln, die Kostüme etwas abgenutzt wirken, das Orchester kleiner ist, die Darsteller eher der amerikanischen Zweitbesetzung entsprechen und die Akustik in den Hallen alles andere als optimal ist, hat man meist dennoch einen unterhaltsamen Abend.
Etikettenschwindel oder eigenständige Musical-Produktion?
In den letzten Jahren verstärkte sich allerdings zunehmend der Trend zu einem eindeutigen Etikettenschwindel! Seit September 1994 reitet zum Beispiel eine Produktion des Kölner Satory-Theaters auf den Bugwellen der Disney Musical-Produktion Die Schöne und das Biest. Aber Hut ab vor der deutschen Tournee-Produktion, denn bunte Kostüme, witzige Handlung und eine durchaus unterhaltsame Musik lassen aufwendige Verwandlungsszenen, dramatische Lichteffekte und beeindruckende Bühnentechnik nicht unbedingt vermissen; nur muß man sich im Klaren sein, daß der Titelsong aus dem Kino in dieser Fassung nicht erklingen wird! Und wer doch lieber das Disney-Musical auf CD bestellen möchte, kann bald die Version aus Wien oder Stuttgart sein eigen nennen. Dank des eigenständigen Covers sollte eine Verwechslung mit der Produktion aus Stuttgart eigentlich auch ausgeschlossen sein.
Musical-Tournee mit Phantom von Weber statt Webber
Etwas anders verhält es sich mit den Tournee-Produktionen zum Thema Phantom der Oper, denn hier weiß der Musical-Fan oftmals gar nicht, was für ein Phantom nun schon wieder unterwegs ist. Angefangen hat der Phantom-Boom natürlich mit der Andrew Lloyd Webber-Produktion in Hamburg. Bereits kurze Zeit später gab es dann die Tournee von The Phantom of the Opera mit der Musik von Weber. Zunächst achtete kaum jemand auf das fehlende zweite b, denn eigentlich handelte es sich um die Musical-Fassung von Ken Hill, der ganz auf die klassischen Komponisten, wie Bizet, Mozart, Verdi und eben Weber zählt. Dank der netten Idee, Opernarien mit neuen, englischen Texten zu bestücken und die Handlung immer mit einem Augenzwinkern auf das große Londoner Vorbild witzig zu inszenieren, ist diese Produktion als nette Abwechslung für Phantom-Fans zu sehen (eingefleischte Liebhaber der klassischen Oper werden wohl eher schockiert sein). Näheres zum musikalischen Inhalt erfahren Sie bei der CD-Kritik!
Musical-Variation Phantom of the Opera von Maury Yeston
Aber die Hill-Version war nur die Spitze des Eisbergs! Im Phantom of the Opera von Maury Yeston konnte der Zuschauer eine romantische Adaption des Stoffes erleben, die der Webber-Fassung vom inhaltlichen Geschehen leicht den Rang abläuft (über Inhalt und musikalische Qualität des Stückes lesen Sie in der CD-Kritik). Die Werbung versprach ein großes Orchester mit großem Ballett und tatsächlich war die akustische Umsetzung für eine Musical Tournee-Produktion überdurchschnittlich (von den vier mittelmäßigen Prima-Ballarinas einmal abgesehen) und selbst die Kulissen ließen die Atmosphäre der Pariser Oper beinahe zur Realität werden. Über die wechselnden Masken des Phantoms, die immer seine Stimmung ausdrücken sollten, auf mich jedoch zu schrill und bunt oder einfach nur unpassend wirken, kann man sicherlich geteilter Meinung sein. Die Produktion an sich ist aber sicherlich sehenswert, wenn mir auch die Eintrittspreise ohne Ermäßigung aller Tournee-Produktionen von bis zu 80 Euro weit überteuert erscheinen.
Tournee-Phantom von Hoffmann und Freynik mit unfreiwillig komischen, deutschen Songtexten
Kommen wir nun aber zum Etikettenschindel par excellence. Seit Herbst 1996 zieht der Musical-Thriller in deutscher Sprache Phantom der Oper von Hoffmann und Freynik durch deutsche Lande (und der Spuk geht auch in diesem Jahr weiter!). Als ich 1998 zwei Freikarten für dieses Phantom bei einem Preisausschreiben gewann, freute ich mich auf ein Wiedersehen mit dem Yeston-Phantom, denn die Werbeplakate ähnelten sich bis aufs Haar der Hauptdarstellerin. Erst in der Grugahalle in Essen erfuhr ich im Programmheft, daß es sich um eine “neue” Produktion handelt. Kostüme und Kulissen wurden ohne Ausnahme originalgetreu von der Yeston-Fassung übernommen! Viel schlimmer aber waren inhaltliche und musikalische Umsetzung des Gaston Laroux-Stoffes. Die zündende Idee, das Phantom als Sprengstoffexperten fungieren zu lassen, das ganz Paris in die Luft jagen will, gingen ebenso daneben wie alle Songs der Show, die vollkommen unmusikalisch keinen einzigen Höhepunkt bereithalten mit deutschen Texten, die unfreiwillig komisch wirken. (z.B. die Arie der Christine: “Der eine wird Bäcker, der and´re Dentist, der nächste Barbier, oder Dorfpolizist. Ein Nachbar studierte und wurde Jurist. Nur einer wurd´ Künstler, der ist Cirkusartist. Alle fragen nun immerzu: Christine, was bist du?”). Mit einem Wort: diese Phantom-Variation ist die investierte Zeit und erst Recht nicht das Eintrittsgeld wert! Sehr bedauerlich fand ich die Äußerungen einiger Zuschauer während der Pause: “In Hamburg oder Essen war das aber irgendwie anders!” oder “Darum machen alle meine Bekannten so einen Rummel?” Deshalb noch einmal in aller Deutlichkeit: DAS Phantom der Oper von Andrew Lloyd Webber gibt es in Deutschland leider nicht mehr zu sehen! (Weitere Phantome auf CD finden Sie hier)
Musical Chess auf Stadt-Theater Tournee
Neu in der Tour-Saison bis 2001 ist die Koproduktion aus Salzburg/Gdynia des Benny Andersson / Björn Ulvaeus / Tim Rice Musicals Chess von 1986, dessen “deutsche Erstaufführung” am 5.2.2000 von Baden-Baden aus durch die Stadttheater ganz Deutschlands reist. Gezeigt wird die Londoner-Urfassung des Stücks inklusive des neuen Songs “Someone Elses Story”, der erst seit der Broadway-Fassung in die Show integriert wurde. Deutsch sind übrigens nur die eingestreuten Dialoge, gesungen wird in der englischen Originalfassung, was die Verständlichkeit der ohnehin verworrenen Handlung, die dank des schwachen Buches für jede Inszenierung in geänderter Form gezeigt wird, kaum nachvollziehbar ist. Da ist der amerikanische Schachweltmeister Frederick mit seiner geliebten Sekundantin Florence, die sich in den Gewinner Anatoly aus Rußland verliebt, der daraufhin ins Exil nach England geht und Jahre später vom Exchampion in Bangkok mit seiner Frau Svetlana konfrontiert wird, um seinen Titel an den neuen Herausforderer aus Rußland zu verlieren. Aber selbst Florence, die in Ungarn geboren wurde und mit den Hintergründen um ihren verschollenen Vater von den Russen erpreßt, kann den Sieg Anatolys nicht verhindern und die beiden trennen sich.
Das menschliche Schachspiel um den kalten Krieg ist in dieser polnischen Produktion mit Synthesizer-verstärktem Orchester dank der soliden bis überdurchschnittlichen Leistungen der Hauptdarsteller durchaus sehenswert. Die Inszenierung weist jedoch einige Schwachstellen auf: das treppenförmig gestaltete Stahl-Bühnenbild ist permanent präsent und für eine 150 min Show viel zu unflexibel und langweilig; die 300 Kostüme sind zwar aufwendig und einfallsreich, wirken jedoch allzu oft wie “polnischer Chic”, der nicht in jede Szene paßt; die Choreographie des wirklich starken Balletts wirkt immer unpassend komisch und last but not least die Rolle des Schiedsrichters, der als Erzähler wie ein Transvestit aus Rocky Horror permanent durchs Bild stolziert, paßt eigentlich nur zu Cabaret! Doch dank dieser Mängel erlebt der Zuschauer einen semi-professionellen Abend, der durch Choreographie und Kostüme immer wieder köstlich amüsiert - und die Klassiker wie “One Night In Bangkok”, “I Konw Him So Well” und “Pity The Child” sind auch auf einer kleinen Bühne sehens- und hörenswert. Allen Daheimgebliebenen sei wärmstens die Londoner Original Doppel-CD oder auch die Highlights-CD vom Broadway ans Herz gelegt!
Mamma Mia! oder eigenständige Verarbeitung des ABBA-Phänomens?
Und wenn wir gerade schon von ABBA sprechen: Auch vor dem erfolgreichen MAMMA MIA!, das ab 2004 nicht nur in Hamburg, sondern erstmals in der deutschen Musical-Geschichte gleichzeitig an einem zweiten Standort spielen wird, wenn es das “echte” Phantom der Oper in Stuttgart ablöst, geht die Nachahmerwelle nicht spurlos vorbei. Gerade bei den MAMMA MIA-Plagiaten, deren Veranstaltungen direkt mit dem Schriftzug der Stage Holding-Produktion warben, gab es sogar gerichtliche Schritte, die diese Version in der Versenkung verschwinden ließ. Doch ABBA lebt und der neue Veranstalter weist nun sicherheitshalber selber darauf hin, dass es sich bei dieser Produktion um eine eigenständige Verarbeitung des ABBA-Phänomens handelt - Thank You For The Music: ABBA - Wahnsinn!
Das ABBA-Musical-Fieber hat Magdeburg erreicht. "Thank you for the music" ist der Titel der musikalischen Biografie. Starmoderator Uwe Hübner präsentiert die unvergesslichen Hits der schwedischen Kultband in einer glitzernden Musicalshow. Mit "Waterloo" begann 1974 der kometenhafte Aufstieg von Agnetha, Benny, Björn und Anni-Frid beim Grand Prix in Brighton. "Dancing Queen", "Mamma Mia", "Take a chance on me" und viele andere unsterbliche Songs folgten und eroberten die Herzen von Millionen begeisterter Fans. In Magdeburg führt Uwe Hübner durch die zweistündige Revue. Der ehemalige Moderator der ZDF-Hitparade erzählt in amüsanten Episoden die Geschichte der legendären Band der schrillen siebziger Jahre. Die Darsteller Rachel Hiew (Agnetha), Theresa Pitt (Anni-Frid), Rick Benton (Benny) und Heiko Pagels (Björn) sehen ihren Vorbildern nicht nur verblüffend ähnlich, sondern stimmen auch vom Gesang her ganz mit ihren Vorbildern überein. Von einer großartigen Liveband unterstützt, wird die Show zur perfekten Illusion der Wiederauferstehung von ABBA. Plateauschuhe und Glitzeranzüge sorgen für das unvergleichliche siebziger-Jahre-Feeling. Die Show von Musicalproduzent Bernhard Kurz feierte sensationelle Erfolge in Essen und Berlin. "Thank you for the music" begeisterte das Publikum und sorgte für ausverkaufte Vorstellungen.
© by Stephan Drewianka
Alles zum Abba-Phänomen bei Sound Of Music!