Premiere von „Hello, Dolly!“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen
Mit nem Teelöffel Dolly!
Ist in einer Zeit, wo auf dem Handy durch einen Wisch nach rechts oder links über ein Date entschieden wird, ein Musical über eine Heiratsvermittlerin noch aktuell? Darf der Hauptdarsteller im Stück ein Frauenbild zeichnen, in dem die Partnerin nur zu Hause putzt und kocht und den geldverdienenden Mann dankbar von früh bis spät bedienen soll? Autor Jerry Herman war sicherlich kein Macho, zumal die Titelheldin seines Broadway-Erfolges „Hello, Dolly!“ von 1964 sehr emanzipiert und selbstständig ist. Ausgezeichnet mit 7 Tony Awards zeigte Carol Channing mit Charme in 2844 Aufführungen, wer tatsächlich das starke Geschlecht ist.
Nach New York feierte das Musical 1965 im Londoner West End Premiere und kam im folgenden Jahr in deutscher Version auch an das Düsseldorfer Schauspielhaus. Bette Midler glänzte in einer Neufassung am Broadway ab März 2017 in der Rolle der Dolly Levi, die als verwitwete Heiratsvermittlerin den geizigen Halb-Millionär Horace Vandergelder aus Yonkers unter die Haube bringen will. Ganz nebenbei verkuppelt Dolly seine beiden Angestellten Barnaby und Cornelius mit zwei Hutmacherinnen in New York, denn eigentlich hat sie für Horace längst den perfekten Ehepartner gefunden: sich selbst.
Unter der Regie von Gene Kelly gab es 1969 die weltberühmte Verfilmung mit Barbra Streisand als eigentlich zu junge Dolly, mit Walter Matthau als griesgrämigem Horace, mit dem späteren Londoner „Phantom der Oper“ Michael Crawford als schlaksiger Cornelius, und mit Louis Armstrong in einer Gastrolle. Von 7 Oscar-Nominierungen konnte der Film 3 Trophäen mit nach Hause nehmen. Jahre später war sogar Pixars Roboter „Wall-E“ im Weltall von „Hello, Dolly!“ und dem Song „Put On Your Sunday Clothes“ ganz besessen.
Hello Dolly 2024 am Musiktheater im Revier
Am 13. Januar 2024 feierte „Hello, Dolly!“ Premiere am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Unter der Regie von Carsten Kirchmeier wird eine deutsche Fassung mit englischen Songtexten präsentiert. Von der ersten Minute zeigt die Bühne von Jürgen Kirner, wie man den angestaubten Musical-Klassiker modern ins Bild setzt. Dabei haben die Darsteller wohl ein Fläschchen mit der Aufschrift „Trink mich!“ aus „Alice im Wunderland“ konsumiert und wurden mit dem „Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft“-Effekt miniaturisiert, denn Horace Vandergelder hat ein Geschäft in Form einer überdimensionalen Registrierkasse und in Molloys Hutmacherladen verstecken sich Cornelius und Barnaby in Riesen-Hutschachteln. Im exklusiven Restaurant Harmonia Gardens besteht die Einrichtung aus mit Servietten dekorierten Speisetellern und man sitzt auf riesigen Sektkorken. „Sei hier Gast“ („Die Schöne und das Biest“) könnte das Motto dieses Luxus-Restaurants sein. Passend dazu findet Dollys spektakulärer Auftritt zum Showstopper des Titel-Songs „Hello, Dolly!“ nicht auf der üblichen Showtreppe statt, sondern auf einem schwebenden Teelöffel!
Die Kostüme von grau zu bunt
Zu diesem Regiekonzept passen auch die regenbogen-bunten Kostüme von Beata Kornatowska, die eher an die Traumsequenz aus „Mary Poppins“ im Bonbonladen erinnern als an historisch korrekte Straßenkleidung der Vereinigen Staaten um 1890, obwohl man sich diese superkalifragilistischexpialigetische Kluft vom tristen Grau in Yonkers erst durch Dollys frohe Lebens-Lektionen „verdienen“ muss. Pfiffig ist auch die Umsetzung der in der Verfilmung unglaublich aufwändigen Szene zum Song „Before The Parade Passes By“, denn in Gelsenkirchen sehen die Zuschauer nicht die patriotische Parade selbst, sondern nur die Reaktionen der Darsteller darauf.
Choreografie, Musik und Ton
Zu diesen optischen Leckerbissen tanzt das Ensemble in der stimmigen Choreografie von Paul Kribbe, die das hektische Treiben der Kellner im Harmonia Gardens zeigt, zwar weniger akrobatisch als in anderen Inszenierungen, aber mit mehr Ruhe und Stil. Etwas zu viel Ruhe verströmte das Dirigat der musikalischen Leitung von Peter Kattermann / Meteo Penaloza Cecconi, der die Neue Philharmonie Westfalen bei der Premiere mit angezogener Handbremse nicht zur vollen Power antreiben wollte. Der Orchestersound wurde im Ton von Jan Wittkowski zurückhaltender abgemischt, was die Textverständlichkeit der Darsteller verbessert, wenn im englischen Original mit deutschen Übertiteln gesungen wird. Hier können die Darsteller umso mehr punkten.
Darsteller und Rollen in Hello Dolly!
Anke Sieloff verkörpert ihre eigene Auslegung der Titelfigur von Dolly Gallagher Levi - ohne dabei Vorreiter zu kopieren - in ihrer persönlichen Stimmfärbung. Einerseits sympathisch im Zwiegespräch mit ihrem verstorbenen Mann, energetisch beim Verteilen ihrer Visitenkarten für unterschiedlichste Kurse von zwischenmenschlichen Aktivitäten, oder einfühlsam bei der Anbahnung einer Pärchen-Bildung von Mann und Frau, bedient Sieloff alle Register. Dirk Weiler als Horace Vandergelder zieht bei so viel geballter Frauenpower den Kürzeren, überzeugt aber mit einer weitaus gehaltvolleren Singstimme als Walter Matthau im Film. Sebastian Schiller als Cornelius Hackl und Nicolai Schwab als Barnaby Tucker sind das energiegeladene Comedy-Paar, das von ihrem weiblichen Gegenpol Julia Heiser als bodenständige Irene Molloy und Sonja Hebestadt als liebenswerte Minnie Fay gezähmt wird. Mit Alina J. Simon als Horace zierliche Nichte Ermengarde und Jonathan Guth als Bohnenstange Ambrose Kemper hat sich bereits ein perfektes Paar gefunden, das Dolly in den Augen des Onkels aber erst noch etablieren muss. Alfia Kamalova spielt die überdrehte Lebedame Ernestina Money, die Dolly Horace als schlechtes Beispiel vorführt, um sich schließlich selbst besser an den Mann bringen zu können. Charles E.J. Moulton verkörpert die kleine, aber dankbare Rolle des Chefkellners Rudolph.
Das Musiktheater im Revier zeigt mit der aktuellen Inszenierung von „Hello, Dolly!“, dass man auch vermeintlich altbackenen Musical-Klassikern neues Leben einhauchen kann. So fällt es gar nicht ins Gewicht, wenn die Handlung keinen aktuellen Bezug zu haben scheint, weil Hochzeiten zumindest in westlichen Kulturkreisen längst nicht mehr von älteren Damen eingefädelt werden und Männer nicht mehr vom Frauchen für Küche und Bett träumen – oder vielleicht doch?
© Text: Stephan Drewianka; Fotos: © Pedro Malinowski; dieser Bericht erschien ebenfalls in der Zeitschirft Blickpunkt Musical 02-24 – Ausgabe 128
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