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Theater
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Premiere von „A Chorus Line“ in Bad Hersfeld

Was macht ihr, wenn ihr plötzlich nicht mehr tanzen könnt?

Wie läuft eigentlich das Casting für eine Broadway-Show ab? Vor dem Bühneneingang stehen hunderte Bewerber mit ihren Fotos und Lebensläufen und warten auf ihre Chance, in Gruppen eine kleine Choreografie zu präsentieren, die ihnen ein Coach kurz zuvor einmal gezeigt hat. Alle Tänzer haben Nummern und eine unsichtbare Person im hinteren Bereich des Zuschauerraums teilt den wartenden Darstellern mit, welche Nummern eine Runde weiter sind. Jetzt dürfen die übriggebliebenen Darsteller in kleineren Gruppen verschiedene Tanzstile präsentieren, versagst Du in einem, bist Du raus. Übrig bleibt eine noch kleinere Auswahl und Du denkst, hey, geschafft! Doch weit gefehlt, denn der Regisseur benötigt für die Show nur vier weibliche und vier männliche Rollen. Die Lebensläufe werden abgegeben und plötzlich werden aus den anonymen Figuren echte Menschen. Al, Bebe, Bobby, Cassie, Connie, Diana, Don, Greg, Judy, Kristine, Maggie, Mark, Mike, Paul, Richie, Sheila, Val. Und jeder dieser Charaktere hat eine Geschichte, die sie oder ihn auf diese Bühne gebracht hat. Um sich für die richtige Besetzung entscheiden zu können, möchte der Regisseur diese Geschichten kennenlernen. Alle haben hart gekämpft und alle brauchen diesen Job, doch am Ende bleiben nur acht Kandidaten übrig…



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Entstehung des Musicals

Die Chorus Line bezeichnet im Showbusiness eine lange gerade Reihe von Tänzern und Tänzerinnen, die im Hintergrund dafür sorgen, dass der eigentliche Star glänzend zur Geltung kommt, während sie anonym und möglichst homogen den passenden Rahmen bieten. Individualität ist nicht gefragt. Michael Bennett hatte die Idee, die Lebenserinnerungen der Darsteller der Original-Besetzung als Musical zu präsentieren. Mit der Musik von Marvin Hamlisch, den Texten von Edward Kleban und dem Buch von James Kirkwood junior und Nicolas Dante startete „A Chorus Line“ am 25.07.1975 am Broadway und lief dort in damals rekordverdächtigen 6137 Vorstellungen bis zum 28.04.1990. Neben u.a. neun Tony Awards erhielt das Musical ebenfalls den Pulitzer-Preis, den bisher nur wenige Musicals wie „Of Thee I Sing“, „South Pacific“, „Sunday in the park with George“, „Rent“ und „Hamilton“ erhielten. 1985 wurde das Musical von Sir Richard Attenborough mit Michael Douglas und Audrey Landers verfilmt.

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Eigenständige, deutsche Inszenierung bei den Bad Hersfelder Festspielen

Die Aufführungsrechte waren bisher streng an die original Broadway-Fassung inklusive der Choreografie geknüpft, so dass das Musical sehr selten in Deutschland zu sehen war. Seit 2024 darf das Stück frei inszeniert werden, so dass nach dem First Stage Theater in Hamburg auch die Bad Hersfelder Festspiele zugriffen. Unter der Regie und Choreografie von Melissa King und der musikalischen Leitung von Christoph Wohlleben präsentiert Bad Hersfeld ab dem 22.06.2024 „A Chorus Linein deutscher Übersetzung von Robin Kulisch als 130-minütigen Einakter ohne Pause.
Die Bühne von Karin Fritz begrüßt die Zuschauer zunächst mit einer Videoleinwand, auf der man im Video von Eric Dunlap eine lange Schlange an Darstellern vor der Stiftsruine dabei beobachtet, wie sie am Bühneneingang auf ihren Auftritt warten. Dieser „Videovorhang“ öffnet sich und die Darsteller betreten die von der obligatorischen Spiegelwand abgeschlossene Bühne und beginnen mit dem Aufwärmtraining. Die zwei Videoleinwände jetzt rechts und links neben der Hauptbühne zeigen später in Echtzeit gefilmte Nahaufnahmen der Darsteller bei den Einzel-Interviews, Erinnerungen aus dem Leben der Protagonisten oder den Regisseur Zach, der mitten im Publikum an seinem Regietisch sitzt und die Lebensläufe der Schauspieler studiert. Nach der spektakulär getanzten „Ouvertüre“ der ersten zwei Casting-Zyklen bleiben die letzten achtzehn Kandidaten übrig und es geht ans Eingemachte. Der Prozess, wie aus anonymen Nummern an T-Shirts echte Personen mit spannenden Einzelschicksalen werden, ist absolut faszinierend und macht den Reiz dieses ganz besonderen Musicals aus, auf den man sich als Zuschauer unbedingt einlassen sollte.

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Die Darsteller und ihre Rollen

Da ist Rhys George als Don, der als Kellner eigentlich seine Familie finanziell unterstützen muss und nun seine Schicht verpasst, weil das Casting zu lange dauert und er wieder einmal seinem Traum als Tänzer nachhängt. Kelly Panier als schüchterne Maggie, die die Ehe ihrer Eltern auch nicht retten konnte, Olivia Grassner als rassige Sheila, die als „echte Frau“ mit Sexappeal den Regisseur verführen würde, und Samantha Turton als Sportskanone Bebe, entdeckten alle ihre Liebe zum Ballett durch den Film „Die roten Schuhe“ und können beim Tanzen alle weltlichen Probleme und Sorgen vergessen. Johan Vandamme ist der humorvolle Mike, der seiner großen Schwester die Tanzschuhe klaute und seitdem vergnügt durchs Leben steppt wie Gene Kelly. Vivian Wang klagt als Connie über ihre zu geringe Körpergröße, die asiatische Darstellerinnen als Fluch verfolgt. Thiago Fayad bemerkt als Greg nach einigen pubertären Problemen, dass er sich mehr zu Männern als zu Frauen hingezogen fühlt. Alessandro Ripamonti als Teenager Mark interpretiert den ersten Samenerguss als Geschlechtskrankheit und wird bei der Beichte vom Pastor aufgeklärt. Pascal Cremer als snobistischer Bobby erzählt lieber frei erfundene Geschichten, die aber doch irgendwie seiner realen Lebensgeschichte recht nahekommen. Anneke Brunekreeft nimmt das ganze Casting als Rotschopf Judy nicht wirklich ernst, während William Briscoe-Peake seine Vita als Richie mit dem Satz „Ich bin schwarz“ zusammenfasst. Benjamin Sommerfeld ist der beschützende Al, der seine ebenfalls am Casting teilnehmende Ehefrau Maria Joachimstaller als schüchterne Kristine tatkräftig unterstützen möchte, ihr aber dabei kaum Raum lässt, um sich als eigenständige Person zu präsentieren, denn die beiden funktionieren nur als Pärchen. Clara Mills-Karzel fand als silikonverstärkte Val früh heraus, dass sie aufgrund ihres damaligen Aussehens durch ihre Casting-Bewertungen „Tanz: zehn, Typ: drei“ nie eine Rolle bekam und sich deshalb „Brust und Arsch“ vom Schönheitschirurgen aufhübschen ließ. Myrthes Monteiro als rassige Puerto-Ricanerin Diana fühlte bei ihrer Schauspielausbildung „Gar nichts“, was sie lange auf ihren Lehrer schob, bis sie bemerkte, dass sie zu echten Gefühlen nicht wirklich fähig ist. Kevin Reichmann möchte als schüchterner Paul nichts von seinem Leben erzählen, bis ihn Arne Stephan als plötzlich emphatisch-einfühlsamer Regisseur Zach in einer Pause von seinem Assistenten Larry (Alan Byland) zurückrufen lässt und ihn getrennt vom restlichen Ensemble befragt. Paul erzählt im beeindruckenden Monolog von Kindesmisshandlung, seinen Auftritten als Travestiekünstler und dem dadurch gebrochenem Verhältnis zu seinen Eltern. Und zuletzt ist da noch Emma Kate Nelson als ehemalige Solokünstlerin Cassie, die als Ex-Freundin von Regisseur Zach regelrecht um einen Job bettelt, da sie ihre Karriere als beendet sieht, während Zach sie als zu gut für die Chorus Line hält.
Dramatisch wird es, als Paul einen Tanzunfall hat und eindeutig für die nächste Zeit ausfallen wird, und alle Darsteller fragen sich „Was mache ich, wenn ich nicht mehr tanzen kann?“. Während andere von Tanzstudios und Jobs als Regisseur reden, sagt Diana „Ich bereu es nie“ die Tanzkarriere eingeschlagen zu haben. Zach trifft seine letzte Auswahl und acht Tänzer bleiben übrig, die nun zurück in die Anonymität der Chorus Line treten und dabei überglücklich sind.



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Ein Blick hinter die Kulissen der funkelnden Welt des Musical-Business

Melissa King hat trotz der Ungebundenheit einer freien Inszenierung den Kern des Stückes beibehalten, selbst die Choreografien bleiben nah am Original. Wo sich die Produktion in Kleinigkeiten unterscheidet, gewinnt sie: das Update mit den Live-Videoübertragungen katapultiert das Stück in die Jetztzeit, da Kameras mittlerweile in vielen Auditions eingesetzt werden. Das Orchester der Bad Hersfelder Festspiele ist musikalisch ein opulenter Genuss, der die Darsteller zu Höchstleistungen antreibt, wo man sich als Zuschauer fragt, wo die Damen und Herren nach einer energiegeladenen Choreografie überhaupt noch die Luft hernehmen, um ihre Songs weiterzusingen. Auch die Tatsache, dass das Stück ohne Pause gespielt wird, verdichtet das Theatererlebnis ohne störende Unterbrechung. Es soll Zuschauer gegeben haben, die die Dialogsequenzen der Geschichten, die bis auf das glitzernde Finale gleichbleibenden Kostüme von Conny Lüders und das recht statische Bühnenbild langweilig fanden. Wer aber Interesse hat, einmal einen Blick hinter die Kulissen der funkelnden Welt des Musical-Business zu werfen, findet bei „A Chorus Line“ eine authentische Sicht auf das Leben eines Musical-Darstellers - Tanz: zehn, Typen: zehn!    

© Text by Stephan Drewianka, Fotos by Stephan Drewianka und Bastian Zimmermann

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