Musical Candide in Kassel © N. Klinger
Musical Candide in Kassel © N. Klinger
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Candide - Musical am Staatstheater Kassel

Multimedialer Overkill mit Bitcoins in der Aldi-Tüte

Nach dem fulminanten Einstand des jungen Regisseurs Philipp Rosendahls mit seiner gefeierten Inszenierung der „West Side Story“ im Januar 2018 am Staatstheater Kassel wollte er unbedingt das zweite große Werk von Leonard Bernstein „Candide“ auf die Bühne bringen. Seit der per Video eingespielten „Duschszene“, bei der die Sharks und die Jets zu den Klängen von „Somewhere“ ihre Haarfarben auswuschen und durch den Verlust ihrer Erkennungsfarben auch ihre Rivalität vergaßen, oder den Aufruf an 500 Statisten, die für eine Videosequenz für das Stück „Operette“ im Theatersaal alle Hüllen fallen lassen sollten, kennt das Publikum Rosendahls Affinität zu multimedialen Sequenzen im Theater.
Und so verwundert es wenig, dass beim Betreten des Theaters eine Videoprojektion von Daniel Hengst auf den eiserneren Vorhang der Bühne die Zuschauer auf das kommende Stück einstimmen soll: erotisch und sinnlich fahren Lippen in Nahaufnahme über nackte Haut und streichen Finger über Hals und Rücken. Na, wenn das am 25.01.2020 nicht eine spannende Premiere verspricht! Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf einen halb hochgefahrenen Orchestergraben, dominiert mittig vom musikalischen Leiter Alexander Hannemann, der das Staatsorchester Kassel in reduzierter Besetzung trotzdem mit Elan durch die spritzige Ouvertüre führt. Auch im weiteren Verlauf der Handlung bleiben Musiker und Dirigent an ihrem Platz und werden sogar interaktiv ins Spiel eingebunden.
Weiter hinten dominiert die gern rotierende Drehbühne von Daniel Roskamp und Brigitte Schima eine schwarze Halbkugelkuppel mit runder Projektionsfläche der künstlichen Intelligenz, auf der im Folgenden permanent Videos von abgetrennten Körperteilen, computeranimierten Darstellern, Bergarbeiterdokumentationen in schwarz-weiß oder psychodelischen Mustern ablaufen. Der Grund dieser multimedialen Reizüberflutung zur Unterstützung von Candides endloser Suche nach der besten aller möglichen Welten ist relativ schnell erkannt: heute suchen die Menschen ihr Seelenheil und ihre Bestimmung nicht mehr wie der Titelheld in philosophischen Konstrukten oder religiösen Gottheiten, sondern Vertrauen auf Maschinen, technische Entwicklung und Fortschritt. Naturwissenschaft trifft auf Voltaires Visionen vom menschlichen Streben nach Harmonie, das doch immer als Leben in Chaos und Krieg endet. Eine Inszenierung, die der „Documenta“-Stadt Kassel würdig ist – und darin liegt gleichzeitig das Problem, dass man sich als ahnungsloser Theaterbesucher schnell überfordert sieht und der ohnehin verwirrenden Handlung noch schwerer folgen kann.

Die Handlung von Candide in der Kurzfassung

Candides Leben ist eine Odyssee. Am Schloss des Barons Thunder-Ten-Tronck in Westfalen verliebt er sich in Kunigunde, die von Bulgaren entführt wird und in Freudenhäusern Lissabons die Geliebte des Großinquisitors wird, bis ein Vulkanausbruch die Stadt zerstört. Candide kämpft in Religionskriegen in Spanien, flieht nach Südamerika, wird von Seeräubern überfallen, findet Eldorado und viel Gold, sucht Kunigunde aber in Cartagena, strandet auf einer einsamen Insel, um schließlich in einem Palast in Konstantinopel Kunigunde mit all seinen Schätzen vom türkischen Herrscher freizukaufen und endlich arm aber glücklich auf dem Lande zu leben.
Die Urfassung von „Candide“ war als Operette 1956 mit nur 73 Vorstellungen in New York ein Flop. Nach der Überarbeitung des Librettos 17 Jahre später, zu dem auch Stephen Sondheim zusätzliche neue Gesangstexte beisteuerte, brachte es die Musicalfassung 1974 als Einakter auf 740 erfolgreiche Vorstellungen am Broadway. Ganz zufrieden war Bernstein aber auch mit dieser Version nicht und schuf 1988 eine revidierte Fassung mit mehr originalem Voltaire, schärfer charakterisierten Hauptrollen, einem flüssigeren Handlungsverlauf ohne unlogisch erscheinende Abstecher und durch den Erzähler deutlicher erklärt mit unterhaltsamem Witz.
Kassel zeigt Candide aber in der Broadway Revival Fassung von 1974, dem Bernsteins inhaltliches „Upgrade“ fehlt mit deutschen Dialogen und englischen Songtexten. Besetzt wurde mit hauseigenen Opernsängern und zwei Gästen, deren Stimmen die wunderbaren Songhighlights „The Best Of All Possible Worlds“, „Glitter And Be Gay“ und „What's the Use?“ zwar wundervoll interpretieren, die Dialoge ohne Mikroportverstärkung aber leider oft nicht Saaldeckend bis in den Rang verständlich transportieren können. Echte Gänsehautmomente verspricht der Kasseler Opernchor, wenn er bei „Make Our Garden Grow“ im Surround-Sound gut verteilt im gesamten Theater und auf dem Balkon das Finale schmettert.

Die Darsteller von Candide

Daniel Jenz gibt einen frohgemuten Candide, der sich durch Mord und Totschlag nicht von seinem Ziel Kunigunde, die mal zerbrechlich, mal kämpferisch von Lin Lin Fan exotisch geheimnisvoll interpretiert wird, abbringen lässt. Daniel Holzhauser spielt den ewigen Verlierer Maximilian mit viel Esprit in Himmelblau vom Scheitel bis zur Sohle, während Belinda Williams in hoffnungsvollem Grün als kokette Paquette zum Beischlaf einlädt. Inna Kalininta hütet als mysteriöse „alte Dame“ lange das Geheimnis um ihr halbes Hinterteil. Philipp Basener tut sein Bestes als Voltaire, Dr. Pangloss und der Weise, Licht in die meist verworrene Handlung zu bringen und verliert dabei recht schnell bis auf die Unterwäsche sein stattliches Kostüm und hat bissige Worte parat für Zuschauer aus der ersten Reihe, die 20 Minuten nach Vorstellungsbeginn das Theater verlassen.
Denn „Candide“ ist kein Musical für unbedarfte Zuschauer, die von Bernstein einen getanzten Bandenkrieg erwarten. „Candide“ ist bissige Satire, die klassische Philosophie ad absurdum führt, egal wie häufig dabei die Hauptfiguren sterben und dann wieder quietschvergnügt auferstehen. Die Kasseler Inszenierung von Rosendahl überzeichnet den künstlerischen Anspruch weiter bis hin zu den Tiermasken des Adels in Konstantinopel und regt so zu kontroversen Diskussionen beim Premierenpublikum an: man darf restlos begeistert sein oder eben bereits in der Pause zum Mantel greifen…

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© Text by Stephan Drewianka, Musical-World.de; Bühnenfotos: N. Klinger, Schlussapplausfotos: Stephan Drewianka

Dieser Bericht erschien ebenfalls in der Zeitschrift Blickpunkt Musical, Ausgabe 105, 02-20, März-Mai 2020

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