West Side Story am Staatstheater Kassel
West Science Fiction Story
Nach dem innovativen Broadway-Musical „Ragtime“ der letzten Spielzeit steht seit dem 20.01.18 in Kassel ein vermeintlich langweiliger Klassiker von Leonard Bernstein auf dem Spielplan. Wenn jedoch der junge Philip Rosendahl, der nach Regiearbeit für das Studio Lev und das Junge Staatstheater erstmals für die Oper am Staatstheater Kassel inszeniert, alle Fäden in der Hand hält, vermag die „West Side Story“ tatsächlich zu überraschen. Daniel Roskamps Bühne besteht aus zwei drehbaren Elementen, die Abwasserrohre auf der einen und auf der anderen Seite die umgedrehten Buchstaben „W-E-S-T“ zeigen, in denen links Doc´s Drugstore, Treffpunkt der US-amerikanischen Jets, und rechts Anitas Brautladen der puerto-ricanischen Sharks beheimatet sind.
Berührende Traumsequenz
Die Kostüme von Brigitte Schima trennen die rivalisierenden ethnischen Gruppen strikt in zwei Farblager aus türkis-blau-gelb und rot-violett, was sich bis in die futuristisch gestylten Haarfrisuren und das Make-Up fortsetzt. Dies sorgt bei den spektakulären Choreografien von Volker Michl nach den Motiven von Jerome Robbins für eine gelungene optische Trennung. Das „Romeo und Julia“ Liebespaar ist „anders“ als der Rest, mischen sich in Marias Kleid Blautöne und stiehlt sich in Tonys Hemd auch etwas Rot. Eigentlich simpel, aber in der visuellen Wirkung unglaublich effektvoll und berührend ist die „Somewhere“-Traumsequenz der beiden Hauptdarsteller, in der über eine Film-Einspielung die beiden Gruppen buchstäblich im Regen stehen und dabei die trennende Farbe komplett aus den Haaren gewaschen wird und sich die einzelnen Individuen plötzlich ohne Einschränkungen als gleichwertige Menschen akzeptieren und lieben können – ein fragiler Traum, der schnell wieder zerbricht und die Liebenden in die Realität von Hass und Gewalt zurückwirft.
Kraftvolle Inszenierung und Musik, stimm- und tanzstarke Besetzung mit Judith Caspari
Die visuelle Kraft Rosendahls Inszenierung wird musikalisch vom Staatsorchester Kassel unter der Leitung von Alexander Hannemann untermauert. Das Musical wird komplett in englischer Sprache aufgeführt, doch man sollte sich als Zuschauer nicht dazu verleiten lassen, selbst die Dialoge als deutsche Übertitel mitzulesen, denn man könnte etwas vom Bühnengeschehen verpassen! Die Besetzung weiß zu überzeugen, da sie die Darsteller nicht in Tänzer, Sänger und Schauspieler trennt. Judith Caspari (alternierend Anna Nesyba) ist eine wunderbar jugendlich-energiegeladene Maria, die mit Daniel Jenz (alternierend Michael Pflumm) einen idealen Partner hat. Beide singen ihre Rollen klassisch opernhaft geprägt, was sie auch gesanglich vom restlichen Ensemble abhebt. Anna Thorén ist eine starke und emanzipierte Anita, Rupert Markthaler ein rassiger Bernado und Tom Schimon als Riff ein echter Bandenchef. Die restlichen Sharks und Jets fügen sich stimm- und tanzstark in die rundum gelungene Aufführung ein. Dieter Hönig als Doc / Glad Hand und Bernhard Modes als Officer Krupke sorgen dafür, dass selbst Stücke wie „Officer Krupke“, die in vielen anderen deutschen Inszenierungen wie Fremdkörper unangenehm hervorstechen, sich in Kassel wie aus einem Guss ins Gesamtbild eines gelungenen Musicalabends einfügen.
Rosendahl hat es am Staatstheater geschafft, einen angestaubten Klassiker modern und aufregend neu zu erfinden. Lassen Sie sich visuell in einen Science Fiction Film wie „Das fünfte Element“ entführen, während sie zur fulminant interpretierten Musik von Bernstein und den überraschend aktuellen Originaltexten von Sondheim zurück ins Premierenjahr 1957 katapultiert werden: Go WEST! Dank fulminanter Tagespresse waren die vorerst 14 Shows bis einschließlich 20.06.18 in kürzester Zeit komplett ausverkauft, doch nach der Sommerpause wird es sicherlich weitere Vorstellungen geben.
© Text: Stephan Drewianka, Bühnenfotos: N. Klinger, Schlussapplaus-Fotos: Stephan Drewianka; dieser Bericht erschien ebenfalls in der Zeitschrift Blickpunkt Musical, Ausgabe 93 (02-18, März-Mai 2018)