Deutschlandpremiere von „Imagine This“ des Freien Musical Ensembles Münster
„Stell es Dir vor“ – wie der Fall von Masada die Juden im Warschauer Ghetto berührt
Der israelische Komponist Shuki Levy, der in den 80er Jahren unzählige Soundtracks für Kinder-Fernsehserien wie „He-Man and the Masters Of The Universe“ bis „Power Rangers“ schrieb, träumte lange von der Verwirklichung seines Musicalprojektes „Masada“ über die langjährige Belagerung des jüdischen Volkes durch die Römer in einer Felsenfestung, bei der 73 nach Christus rund 1000 Juden einen Massenselbstmord begingen, um sich Flavius Silva nicht ergeben zu müssen. Das resultierende Musical wurde zum 50-jährigen Bestehen Israels als Konzert-Fassung aufgeführt und es existiert eine englische Gesamtaufnahme als Doppel-CD mit der vom Moskauer Symphonieorchester eingespielten bombastischen Musik. In der Folgezeit gelang es Levy jedoch nicht, sein Musical auf die Bühne zu bringen, denn kein Produzent wollte ein Musical aufführen, dass in einem Massenselbstmord gipfelte. Songtexter David Goldsmith und Glenn Berenbeim (Buch) hatten schließlich die Idee, die Geschichte um den Fall von Masada als Stück im Stück zu präsentieren, das von einer jüdischen Schauspielerfamilie im Warschauer Ghetto im zweiten Weltkrieg aufgeführt wird. Das „neue“ Musical hieß „Imagine This“ und wurde nach einem Tryout in Plymouth am 19.11.2008 ans Londoner West End transferiert, wo es jedoch nach knapp einem Monat wegen schlechter Besucherzahlen wieder abgesetzt werden musste.
Seit vielen Jahren versuchte das Freie Musical Ensemble in Münster die Aufführungsrechte zu sichern. Am 28.10.16 fand die Premiere der deutschen Übersetzung von Ingo Budweg, der gemeinsam mit Canan Toksoy Regie führte, im Konzertsaal der Freien Waldorfschule Münster statt und bis zum 20.11.16 ist „Imagine This“ insgesamt zwölf Mal zu sehen. Wer bereits das FME Münster aus vergangenen Produktionen, wie der deutschen Erstaufführung von „Scrooge“ oder „Eine Geschichte aus zwei Städten“ kennt, der weiß, dass der ambitionierte Amateur-Musical-Verein oft über 100 Personen auf der Bühne und im großen Orchester in hoher Qualität bietet. Doch mit „Imagine This“ wollte der Verein gelebte Geschichte zeigen und verknüpfte den Schrecken des Holocausts mit all den grausamen, düsteren und brutalen Bildern, die den Darstellern viel emotionale Kraft kosteten, mit den lebensbejahenden Facetten, die es im Warschauer Ghetto auch gegeben hat: Kultur, Freundschaft, Liebe und vor allen Dingen die Hoffnung auf bessere Zeiten.
Familienvater und Leiter einer jüdischen Theatergruppe Daniel Warshowsky (Christoph Bürgstein) wird mit seiner Familie vertrieben und ins Warschauer Ghetto gebracht, wo er durch Theateraufführungen anderen Juden zumindest für kurze Augenblicke das Leid im Lager vergessen lassen will. Als neues Stück hat er „Masada“ ausgewählt, weil die eigene Situation im Lager mit den Nationalsozialisten recht viele Parallelen zu der römischen Besatzung der Wüstenstadt ausweist und das Stück den Nazis ebenfalls gefallen sollte, weil „gesungen und getanzt wird und am Ende alle Juden tot sind“. Tochter Rebecca (Sarah Hartmann) hat längt den Glauben an den Optimismus des Vaters verloren und glaubt auch nicht mehr an Liebe, doch übernimmt sie im Stück wegen ihrer kleinen Schwester Lea (Melisa Altay / Alina Remmers) die weibliche Hauptrolle der Tamar. In die Proben stürmt der gesuchte Widerstandskämpfer Adam (Sönke Westrup), den Daniel vor SS-Hauptsturmführer Blick (Melvin Schulz-Menningmann) als Schauspieler vorstellt, der die Rolle des Römers Silva übernehmen soll. Adam will mit Waffen gegen die Nazis vorgehen, doch Daniel überzeugt ihn, dass auch Worte Waffen sein können. Kurz vor der Pause von „Masada“ verkündet Blick der Theatergruppe, dass sie am nächsten Morgen mit einem Zug in ein Lager im Osten zu einem besseren Leben umgesiedelt werden sollen. Doch Adam weiß, dass dieser Zug ins Vernichtungslager Treblinka fährt, das noch kein Jude wieder lebend verlassen hat. Als Blick erfährt, dass die Theatergruppe ihr wahres Schicksal erkannt hat, bietet er Daniel einen Handel an: er soll „Masada“ zu Ende bringen und die übrigen Menschen in Sicherheit wiegen, dann ermöglicht er der Gruppe eine sichere Ausreise in die Schweiz. Den Zuschauern erklärt Blick, sie werden das Ghetto am kommenden Tag in ein besseres Leben verlassen. Die Theatergruppe ist gespalten. Einige wollen unbedingt ihr eigenes Leben retten, während andere ihre Mitbewohner vor der Deportation bewahren wollen, selbst wenn es sie das Leben kostet. Und so soll das Finale von „Masada“ auch über das Schicksal der Theatergruppe entscheiden. Wer nach dem Massenselbstmord auf der Bühne liegen bleibt, hat sich für Blicks Vorschlag entschieden, wer zum Schlussapplaus aufsteht, entscheidet sich für die Revolte und die Warnung an die anderen Juden…
Selbst wer kein Freund von „Stück im Stück“-Musicals ist, wird an „Imagine This“ trotzdem Gefallen finden, denn selten wurden zwei Geschichten besser zu einer Einheit verwoben, wie in diesem Stück. Bei „Masada“ geht es um Verrat und Liebe, und so wie sich die Tochter des Judenoberhauptes Tamar in den Römer Silva verliebt, so passiert das auch den Schauspielern Rebecca und Adam. Salome (Katharina Datan) verführt im Stück die Römer, während Lola mit dem SS-Hauptmann schläft, um ihren warmen Pelzmantel behalten zu dürfen. Doch „Imagine This“ geht sogar noch einen Schritt weiter, denn die Zuschauer des Musicals werden 2016 selbst Teil der Handlung, wenn Blick die Vorstellung unterbricht, weil im Stück Weintrauben verwendet werden, die nur Schmuggelware sein können. Der Schuldige ist nach blutigem Verhör nicht der Dirigent des Abends, aber vielleicht versteckt er sich im Publikum…
Die schauspielerische Leistung aller Darsteller ist bestechend gut, egal, ob es sich um den Judenwitze erzählenden Christoph Bürgstein als Daniel handelt oder seinen gewaltbereiten Rivalen Adam, der von dem erst 19-jährigen Sönke Westrup gespielt wird. Als ein Jude oder ein Christ als Feinde Roms ans Kreuz genagelt werden sollen, gibt es einen "Always Look On The Bright Side Of Life"-Moment, perfekt komödiantisch dargeboten von Jonathan Kaas (Pompey) und Jonas Buchholz (Aaron), bevor sich der Christ opfert, weil der Jude eine Familie hat. Dies sind stellvertretend nur vier Namen aus 58 Darstellern, die den Namen Amateur nur deshalb tragen, weil sie ehrenamtlich ohne Gage auftreten. Das insbesondere die Ensemble-Gesangsnummern zu Gänsehautmomenten werden, ist der guten Soundmischung von Thorsten Brinkmann am Ton und dem großen Orchester unter der versierten Leitung von Stephan Rinschen zu verdanken. Mit 46 Musikern erstrahlen die epischen Kompositionen von Shuki Levy, die an klassische Filmmusik erinnern, in einem symphonischen Sound, den es in professionellen Produktionen selbst an Stadttheatern leider immer seltener zu hören gibt. Die Choreografie von Kathrin Wegener und Johanna Lammert ist eher zurückhaltend, überzeugt aber trotzdem durch tolle Einfälle, wenn z.B. das Ensemble für die kleine Lea aus einfachsten Requisiten die Illusion eines Karussells erschafft, das als Spielzeug ein Leitmotiv im Stück für bessere Zeiten ist. Das Bühnenbild von Christoph Bürgstein und Sonja Roeske zeigt hauptsächlich ein Zugdepot im Warschauer Ghetto, das durch das stimmungsvolle Licht von Georg Weigang und Holger Blumberg auch zum zweigeteilten Bild der Felsenfestung Masada werden kann, wo die Juden auf dem Balkon die Römer am Fuß des Berges verhöhnen. Die Kostüme von Matthias Betke und Constanze Winkler sind authentisch für die Zeit von 1942 und für die Masada-Szenen herrlich zusammen gesammelt aus alltäglichen Dingen im Ghetto, wenn z.B. Cäsar (Carsten Jaehner) in einer Tischtuch-Toga stolz wie die Freiheitsstaue umherstolziert.
Selbst mit einer Gesamtspielzeit von fast dreieinhalb Stunden fesselt „Imagine This“ von der ersten bis zur letzten Minute und weist keine nennenswerten Längen auf. Auch wenn sich das Stück aufgrund der gezeigten Gewalt nicht für Kinder eignet, ist es sicherlich ein Lehrstück über Toleranz gegenüber Religion und Minderheiten, das heute aktueller denn je ist. Gratulation dem FME für den Mut, ein solches Stück gerade in Deutschland auf die Bühne zu bringen, auch wenn von vornherein klar war, dass es kein Publikumsmagnet sein wird.
© Text & Fotos: Stephan Drewianka; dieser Bericht erscheint in gekürzter Fassung ebenfalls in der Fachzeitschrift Blickpunkt Musical 6-16, Ausgabe 85
Pressemitteilungen: Imagine This 2016 in Münster
2015 hieß es noch "Einer für Alle" im erfolgreichen Musical "Die 3 Musketiere". In diesem Jahr bringt das Freie Musical-Ensemble Münster (FME) das Stück „Imagine This“ als deutsche Erstaufführung auf die Bühne.
Handlung des Musicals Imagine This im Warschauer Ghetto
Das Musical spielt im Jahr 1942, Schauplatz ist das Warschauer Ghetto. Eine Gruppe Schauspieler studiert ein Theaterstück über die Belagerung der jüdischen Festung „Masada“ durch die Römer ein. Mit der Geschichte über den Widerstand des eigenen Volkes wollen sie ihren Mitgefangenen Mut und Hoffnung geben und ihnen helfen, der schrecklichen Realität im Ghetto mit Hilfe der Fantasie zu entfliehen. Von den Nazis wird die Theatergruppe allerdings gezwungen, sich zwischen dem eigenen Leben und dem Wohl ihres Volkes zu entscheiden.
Deutsche Erstaufführung mit eigener Übersetzung
Das Stück „Imagine This“ stammt aus der Feder von Shuki Levy, einem amerikanisch-israelischen Komponisten, Regisseur und Produzenten. Die Uraufführung des Musicals war 2008 am Londoner West End. Bislang wurde es noch nie in deutscher Sprache aufgeführt; wie bei „Scrooge“ 2008 übernimmt das FME die Übersetzung deswegen selbst.
Dieses Musical gerade in Deutschland auf die Bühne zu bringen ist für das Ensemble eine große Ehre, aber auch eine nicht minder große Herausforderung. Regisseurin Canan Toksoy ist sich sicher: „Am Ende des Jahres werden wir nicht mehr die gleichen Menschen sein.“
Musikalische und emotionale Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen
Die Thematik der Verfolgung eines Volkes aufgrund seiner Religion ist dabei aktuell wie nie. „Wir wollen mit unserer Produktion aber keine politische Aussage treffen. Wir möchten erinnern und mit unserem Publikum gemeinsam gedenken“, erklärt Ensembleleiter Ingo Budweg. Bei der diesjährigen Produktion stehen deswegen nicht die Ausstattung der Bühne, die Opulenz der Kostüme oder die ausgefeilte Choreographie im Vordergrund. Das besondere Augenmerk liegt auf der musikalischen und emotionalen Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen und dem Schicksal der Menschen jener Zeit. Aus diesem Grund reisten Budweg und Toksoy im Vorfeld der Produktion selbst für einige Tage nach Warschau und besuchten dabei auch das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz. „Diese Orte mit eigenen Augen zu sehen, hat die damaligen Ereignisse noch greifbarer werden lassen. Die Eindrücke, die wir von dieser Reise mitgenommen haben, werden unsere Inszenierung nachdrücklich prägen“, berichtet Toksoy.
Obwohl das Musical voller hoffnungsfroher und lebensbejahender Momente ist, sollen die tragischen und schrecklichen Aspekte der Geschichte schonungslos dargestellt werden. Aus diesem Grund gibt das FME für das Stück eine Altersempfehlung von mindestens 12 Jahren.
Israelischer Komponist reist aus den USA an
Seit dem 28. Oktober zeigt das Freie Musical-Ensemble Münster (FME) das Musical „Imagine This“ mit der Musik des amerikanisch-israelischen Komponisten Shuki Levy. Dem Ensemble wird nun eine besondere Ehre zuteil: Levy wird selbst aus den USA anreisen und sich die Vorstellung am 11. November ansehen. Grund für seinen Besuch ist die historische Bedeutsamkeit der Erstaufführung dieses Stückes in Deutschland. Das Musical spielt nämlich im Warschauer Ghetto, zur Zeit der beginnenden Deportation ins Vernichtungslager Treblinka. Eine Gruppe Schauspieler studiert ein Theaterstück über die Belagerung der Felsenfestung Masada ein, mit dem sie ihren Mitgefangenen Mut und Hoffnung geben wollen.
Bei seinem Besuch wird Shuki Levy nicht nur von seiner Frau Tori, sondern auch von einer zehnköpfigen Delegation aus Kanada und Israel begleitet, darunter Rami Kleinman (Vorsitzender der Albert Einstein Stiftung, Kanada), Yigal Amedi (Vorsitzender des Nationalen Rates für Kunst und Kultur, Israel), Yigal Molad Hayo (Holocaust Stiftung, Israel), Doron Eran (Israelischer Regisseur und Produzent, Israel) und Eitan Campbell (Leiter des Masada Nationalparks, Israel). Außerdem werden auch Moshe Kepten und Odelia Levi, die Leiter des israelischen Nationaltheaters in Tel Aviv, unter den Gästen sein, da sie „Imagine This“ im Jahr 2017 ebenfalls auf die Bühne bringen wollen.
Für Levy ist die Musik die Sprache der Seele und als Komponist möchte er mit seiner Musik die unzähligen weltweiten Opfer von Gewalt und Verfolgung würdigen und an sie erinnern. Die große Hingabe und das Herzblut, mit denen das Freie Musical-Ensemble sein Stück auf die Bühne bringt, rühren ihn sehr und er ist dankbar, dass die Botschaft seiner Komposition weitergegeben wird.
Levy wurde 1947 in Palästina geboren. Zu Beginn seiner Karriere arbeitete er zunächst als Sänger und trat in verschiedenen Clubs in Tel Aviv auf. In den 1970er Jahren erzielte er im Duett mit Aviva Paz mit dem Song „Signorina – Concertina“ einen europaweiten Hit. In den 1980er Jahren wurde er bekannt für seine Kompositionen für Kinderserien wie Inspector Gadget, MASK, Dragon Quest, He-Man oder She-Ra. Er schrieb außerdem Episoden verschiedener Fernsehsendungen und führte Regie bei mehreren Filmen.
Zurzeit lebt Levy in den USA und entwickelt eine Fernsehserie namens “FuzzBunz”, eine animiertes Pop-Musical für Kinder. Nebenbei ist er auch in weiteren Fernseh- und Filmprojekten involviert. Mit seiner Frau Tori gründete er zudem die Albert Einstein Stiftung und baut momentan ein Einstein-Archiv und -Besucherzentrum in Jerusalem.
Der Grundstein für „Imagine This“ wurde schon in seiner Kindheit gelegt: Bei seinem ersten Besuch der Masada Gedenkstätte fühlte er eine starke Verbindung zu der Geschichte der Felsenfestung, bei deren Belagerung durch die Römer 960 Juden sich lieber das Leben nahmen als in Gefangenschaft zu leben. Diese Tat machte Masada bis heute zum Symbol des jüdischen Freiheitswillens. Levy kam irgendwann der Gedanke, ein Bühnenstück über die Belagerung in Masada zu verfassen. Autor Glenn Behrenbeim, dem Levy seine Idee und seine Musik vorstellte, lehnte es jedoch zunächst ab, diese Geschichte und insbesondere deren tragisches Ende – dem Massensuizid der Juden – zu Papier zu bringen. Schließlich entschieden sie sich, die Geschichte als Stück-im-Stück in einem Musical über Schauspieler im Warschauer Ghetto einzubetten. „Es ging plötzlich nicht mehr nur um Roben und Sandalen, sondern vielmehr um den metaphorischen Wert der Geschichte“, sagte Behrenbeim in einem Interview der Times. David Goldsmith erkannte die Chance, eine Geschichte von Bedeutung zu inszenieren und schloss sich dem Team an.
„Imagine This“ verdeutlicht durch die parallele Darstellung der Geschehnisse im Warschauer Ghetto und in Masada, dass sich Krieg, Verfolgung, Machtgier und Völkerhass nicht an Jahreszahlen festmachen lassen, sondern in der Geschichte der Menschheit immer wieder auftreten und eigentlich allgegenwärtig sind.
Termine und Vorstellungen Imagine This in Münster
Wer sich das Musical selbst ansehen möchte, hat noch bis zum 20. November die Gelegenheit dazu. Die Vorstellungen finden im Konzertsaal der Waldorfschule Gievenbeck, Rudolf-Steiner-Weg 11, statt. Am 11. November sollten sich Besucher aufgrund der internationalen Gäste auf erhöhte Sicherheitsvorkehrungen einstellen. Alle Infos dazu und zum Kartenvorverkauf finden Sie auf der Internetseite unter www.fme-ms.de.
© Pressetext: FME Münster, Fotos: Stephan Drewianka