Musical Evita in Tecklenburg
Die Zeit war reif für eine Neuauflage des Musicals Evita
Che in feinem Zwirn und eine charismatische Heilige mit politischem Killer-Instinkt
Die Freilichtspiele Tecklenburg präsentieren eine opulente und packende Inszenierung des Webber Musical Klassikers Evita – Neue Ansätze, neue Ideen.
Da haben die Tecklenburger ihren Che aber fein herausgeputzt! Elegant und im dunklen Schwarzen statt im oliv-grünen Kampfanzug will der smarte Kerl so gar nicht in das seit Jahren gepflegte Klischee-Bild vom zynisch-bissigen Berufs-Revoluzzer passen. Alles nur Tarnung. Die Eloquenz von Fidels bestem Kampf -Kumpel war nur aufgesetzt. Hinter der Maske des quirlig-einnehmenden Aufwieglers verbarg sich ein scharfzüngiger, knallharter, sarkastischer Analyst, dessen vordringliche Aufgabe es war, Aufstieg und Fall einer der faszinierendsten Figuren der Zeitgeschichte schonungslos und hämisch zu kommentieren – den von Eva Duarte Perón. Welch ein Circus! Und in dieser Mission lieferte Señor Guevara alias Yngve Gasoy-Romdal einen Top-Job ab. Für den Norweger sollte die Evita Premiere der münsterländischen Freilichtspiele in Tecklenburg zu einem Triumpflauf werden.
Mit dem Webber’schen Frühwerk Evita, das seit seiner Uraufführung auch schon 31 Jahre auf dem Buckel hat, entschieden sich die Verantwortlichen in diesem Jahr für einen Musical Klassiker, an dem sie sich im Jahre 2000 schon einmal mit Caroline Fortenbacher in der Titelrolle versucht hatten. Die Zeit war reif für eine Neuauflage. Und die hatte es in sich. Mit Anna Montanaro war der Part der Präsidentengattin mit einer weiteren international reputierten Top-Vertreterin aus der musicalischen Champions-League besetzt worden. Marc Clear als „El Presidento“ sowie ein wie immer blendend aufgelegter Adrian Becker als „Magaldi“ – das war so eine Art argentinischer Heino - komplettierten das Quartett der „Großen Vier“. Doch die versierteste First-Cast nutzt nichts, wenn die Regie schwächelt. Davon kann in Tecklenburg aber keine Rede sein. Mit Holger Hauer zieht bei Evita ein Mann die Strippen, der im Vorjahr noch als Reverend Moore (Footloose) den Tecklenburger „Bibel-Belt“ enger geschnallt hatte. Hauer bringt das richtige Gespür für den Stoff mit und bereichert das Stück um einige neue Nuancen und originelle Ideen.
Klotzen und Schwelgen
Die Besucher in Deutschlands größtem Musiktheater unter freiem Himmel in Tecklenburg erwartet eine opulente, flüssige und ausbalancierte Inszenierung des Musicals Evita, die einerseits durch die feine, punktgenaue Zeichnung der Charaktere besticht, andererseits klotzt und schwelgt, wo es die Situation geboten erscheinen lässt: zum Beispiel bei den imposanten großen Chor- und Volksszenen. Da schicken die Tecklenburger alles, was sie haben, ins Rennen, ihre Statisterie, ihren großen Chor und die Freunde von der German Musical Academy Osnabrück inklusive. Wenn über hundert Akteure die weiträumige Bühne füllen, gibt das immer ein prächtig-eindringliches Bild ab. Das war schon bei Les Miz oder Mozart der Fall, und das ist auch hier nicht anders. Im Verbund mit einem geschickten Staging und dem textilen Füllhorn, das Kostüm-Designerin Karin Alberti wieder über den Ihren ausgeschüttet hat, entwickeln sich daraus grandiose Bilder von nachhaltiger Eindringlichkeit. Zwei wunderschöne Stunden voller Emotion und Tragik stehen ins Haus.
Nach einer wie Evchen Duarte, die sich, aus ärmlichsten Verhältnissen stammend, mit erfolgreichen Zwischenstationen bei Rundfunk und Film bis zur First Lady Argentiniens hoch geschlafen hat, würden sich die quoten- und auflagengeilen Regenbogen- und Krawallmedien heute alle Finger lecken. Gegen die „Heilige Evita“ war Lady D. eine graue Maus. Und wie arm an Identifikations- und Reizfiguren, auf und in die wir unsere Träume projizieren können, sind da die Menschen des 21. Jahrhunderts, die sich mit unterbelichteten Klunker-Tussies und nur auf einem Zylinder denkenden Intellekt-Boliden vom Schlage einer Paris Hilton begnügen müssen?
Señorita Duarte, die zur Gallionsfigur einer ganzen Nation wurde, war da aus ganz anderem Holz geschnitzt – schön, intelligent, ehrgeizig , machtbesessen und völlig skrupellos. Nur ihr größter Traum, die Vize-Präsidentschaft, blieb unerfüllt. Die Krankheit machte einen Strich durch diese Rechnung. All diese Facetten ihres Wesens werden von Anna Montanara intensiv und glaubhaft transportiert. Die stimmstarke Kunstturnerin i.R. ist da in ihrem Spiel womöglich noch besser und überzeugender, als es die reale, historische Vorlage je gewesen ist.
Gutmenschentum und Machtbesessenheit
Die tatsächliche Eva Perón war ein charismatisches PR-Genie mit politischem Killer-Instinkt. Sie ebnete ihrem Juan den Weg zur Macht, trieb ihn an und verschaffte ihm die Unterstützung der Massen, in dem sie ihre und ihres Gatten wahre Ziele geschickt als soziales Gutmenschentum kaschierte. Sie wurde zum „Engel der Armen“, dessen früher Krebstod am 26. Juli 1952 das ganzes Land paralysierte. Mit ihr ging aber auch der Stern Peróns unter. Ihr Engagement für die Habenichtse, aus dem sich politisches (und privates) Kapital schlagen ließ, war eigentlich die Rache an der argentinischen Aristokratie und den Militärs, die sie von Anfang an abgelehnt hatten. Die Upper-Class wird in Tecklenburg pointiert mit herrlich hochnäsigem Gehabe visualisiert. Und auch das Streitkräfte-Ballett ist, Dank der spritzigen Choreografie von Doris Marlies, umwerfend und komisch.
Petri Heil: Tödliche Angelpartie
Marc Clear steht rollenbedingt und somit zwangsläufig im Schatten seiner Partnerin, aber was er trotzdem aus dem Präsidenten-Part herausholt, nötigt Respekt ab. Mal nicht nach dem „Reise-nach-Jerusalem“-Konzept gestrickt, gerät der Machtkampf, der ihn schließlich als einzigen Kandidaten für das Präsidentenamt übrig bleiben lässt, in Tecklenburg zur fidelen und die Mitbewerber tödlichen Angelpartie. Petri Heil! Die Konkurrenten fallen nach dem Zehn-kleine-Negerlein-Schema nach und nach, wenn auch nicht von ungefähr und ganz zufällig, ins Wasser und werden zu Fischfutter. Jana Stelley hinterlässt mit ihrem kurzen Auftritt als „Mistress“, dem von Perón abservierten und ihrer Nachfolgerin Eva aus dem Bett gescheuchtes „Groupie“, ebenfalls einen starken Eindruck.
Die legendäre Regenbogen-Tour Evitas nach und durch Europa, durch die der Präsident später den ramponierten Ruf seines mehr und mehr faschistische und diktatorische Züge offenbarenden Regimes aufzupolieren hoffte, war ja für den Machthaber nur ein mäßiger Erfolg. Auf der Teck-Bühne wird diese Propaganda-Reise geschickt umgesetzt. Ein Absperrgitter, hinter dem sich das mal mehr, mal weniger und mal gar nicht jubelnde Volk drängt – und auf der anderen Seite dieser symbolisierten Bannmeile der nicht mehr ganz frische, weil bereits kränkelnde Staatsbesuch. Die einzelnen Stationen lassen sich an den Nationalfähnchen, die die Menschen schwingen (oder auch nicht), ablesen.
Die Figur des Che hat Webbers Texter Tim Rice ja erfunden – zumindest innerhalb dieses Kontextes. Beide, eben der kubanische Revolutionsheld und die argentinische Präsidentengattin, sind sich in Wirklichkeit nie begegnet. Insofern ist der Kommentator in diesem Werk, dessen deutsche Übersetzung übrigens von Dr. Michael Kunze stammt, auch eine reine Kunstfigur. Parallelen zu gewissen anderen Herren wie Luigi Lucheni (Elisabeth) oder Cagliostro (Marie-Antoinette) sind somit wohl nicht ganz zufällig. Ihrem Einsatz liegen ähnliche dramaturgische Konzepte zu Grunde.
Die Chemie stimmte
Die Entscheidung, Yngve Gasoy-Romdal mit dieser Aufgabe zu betrauen, war nicht nur ob der immensen Popularität und Zugkraft dieses Künstlers ein geschickter Schachzug. Der sympathische Skandinavier, der das Stück vorher nie gesehen hatte, entwickelte und definierte die Che-Rolle zusammen mit Regisseur Holger Hauer quasi neu. Er war - stimmlich erhaben und jenseits aller Kritik - omnipräsent, umtriebig, überall und stets zur Stelle. Señor Guevara kellnerte, radelte mit dem Drahtesel über die Bühne und wurde schon mal, wenn er allzu aufmüpfige Reden schwang, von Evitas in Stasi-Mäntel gekleideten Bodyguards zur Räson gebracht. Die Interaktion mit der überragenden Anna Montanaro ließ erkennen, dass beide nicht zum ersten Male miteinander auf der Bühne standen. Da stimmt die Chemie.
Sitzen in der Pfütze
Die nicht ganz ausverkaufte Premiere des Musicals Evita wurde, zumindest im ersten Akt, von einigen Tonproblemen bzw. solchen mit der Aussteuerung der Mikrofone beeinträchtigt. Darunter litt die Textverständlichkeit, vor allem bei den lauten und den Chorpassagen. Und dann der Albtraum aller Freilichtspiele: Regenströme. In und nach der Pause gab’s eine volle, aber glücklicherweise nur kurze Schauer-Packung von oben. Folge: Triefende Künstler, klitschiger Boden, nasse Kulissen. Betont lässig und augenzwinkernd fegte Gasoy-Romdal deshalb auch erst einmal das Wasser von den Treppenstufen des Aufbaues, ehe er dort Platz nahm. Eine Vorsichtsmaßnahme, die zu ergreifen Anna Montanaro vergessen hatte, als sie sich im weißen Kleid auf den mit Wasser voll gesogenen Polstersessel bequemte. Ihr perplexer Gesichtsausdruck sprach Bände - und war dem Publikum einen großen Zwischenapplaus wert.
Das Musical Evita galt und gilt als Paradebeispiel einer durchkomponierten Rockoper. Webber hat dabei Elemente aus Rock, Pop, Oper und lateinamerikanischen Rhythmen verwoben, die mitunter überraschende Wendungen nehmen und auf einen höheren künstlerischen Anspruch abzielten, als dies in den späteren Werken des britischen Musical-Papstes der Fall war. Populär wurden und sind neben der Hauptmelodie „Wein’ nicht um mich, Argentinien“ Songs wie „Buenos Aires“, „Jung, schön und geliebt“, das hymnenhafte „Wach auf Argentinien“ oder das erwähnte „Was für ein Circus“. Tjaard Kirsch und seinem großen Orchester gelingt es, die Partitur treibend und akzentuiert, mit viel Dynamik und Gespür umzusetzen. An dem, was da aus dem Orchestergraben kommt, gibt es nichts zu meckern.
Vom Musical Evita gibt es bis einschließlich 23. August 19 Aufführungen. Ab 17. Juli erhöhen die Tecklenburger mit dem Musical Aida, ihrem zweiten großen Stück dieser Saison, nochmals die Schlagzahl. Das Publikum hat die Qual der Wahl. Aber es wird hier bestens bedient.
© Jürgen Heimann
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