Premiere des Musicals „Pippin“ von Stage Focus e.V. in der Stadthalle Rheinberg
Herr Pippin sucht das Glück
Der amerikanische Komponist Stephen Schwartz sollte dem deutschen Musical-Publikum durchaus ein Begriff sein, stammen aus seiner Feder doch so wundervolle Stücke wie „Wicked – Die Hexen von Oz“, „Schikaneder“, „Der Glöckner von Notre Dame“ (Texte) und „Der Prinz von Ägypten“. Zu seinen Frühwerken gehört nach „Godspell“ (1971) auch das Musical „Pippin“ (Libretto von Roger O. Hirson und Bob Fosse), das seine Broadway-Premiere am 23.10.1972 feierte, in New York ununterbrochen bis 1977 zu sehen war und mit 5 Tonys ausgezeichnet wurde. 2013 gab es eine mit 4 weiteren Tonys prämierte Revival-Produktion des Stückes um den naiven, ältesten Sohn Karls des Großen, Pippin den Buckligen.
Obwohl das Musical auf historischen Personen basiert, folgt die Handlung keinem geschichtlichen Bezug. Vielmehr geht es um einen jungen Menschen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Was ist das Ziel: Macht, Familienglück, Geld oder die 15 Minuten Ruhm, die einen Menschen außergewöhnlich machen, so dass er unsterbliche Geschichte schreibt? Erzählt wird Pippins philosophischer Seelenstriptease von einem Leading Player, der aber weit mehr ist als ein über der Handlung stehender Charakter, greift er doch aktiv ins Geschehen ein, gibt Pippin Ratschläge, holt selbst tote Personen wieder ins Leben zurück und stellt Pippin schließlich im Finale vor eine alles entscheidende Wahl.
Pippin - Die Handlung
Nach seinem Studium kehrt Pippin an den königlichen Hof zurück und versucht, die Gunst seines Vaters zu gewinnen, indem er ihm in den Krieg gegen die Westgoten folgt. Doch das Abschlachten eines Volkes bringt nicht die erhoffte Erfüllung. Rat holt sich Pippin von seiner im Exil lebenden Großmutter Bertha, die ihm den Hakuna Matata-Tipp gibt, das Leben sorgenfrei zu nehmen wie es kommt und einfach Spaß zu haben. Doch die sexuellen Ausschweifungen werden mit der Zeit auch langweilig, so dass Pippin seine nächste Aufgabe im Kampf gegen die Tyrannei seines Vaters sieht. Auch Stiefmutter Fastrada, die ihren Sohn Ludwig auf den Thron hieven möchte, ermutigt Pippin, seinen Vater zu erdlochen. Als neuer König erweist sich Pippin jedoch als ziemlicher Versager im politischen Intrigenspiel und zerbricht schließlich an der Aufgabe, es allen recht machen zu wollen. Als seelisches Wrack nimmt ihn die Witwe Katherina mit auf ihren Bauernhof. Zusammen mit Sohn Theo stellt sich schnell alltägliche Routine ein, die Pippins Streben nach einer höheren Erfüllung seines Lebens nicht verwirklichen kann. Der Leading Player zeigt ihm die Möglichkeit eines wirklich spektakulären Selbstmordes, den die Zuschauer würdigen würden und der garantiert in die Geschichtsbücher eingehen wird…
Neues Musical Pippin vom Musicalverein Stage Focus
Der Musicalverein Stage Focus e.V., der zunächst nur Musical-Konzerte auf die Bühne brachte, fasste 2017 erstmals mit dem Stephen Schwartz Musical „Godspell“ den Mut, ein komplettes Musical aufzuführen und landete damit gleich einen Publikumserfolg. Im Jahr 2019 folgte mit dem Anti-Märchen-Musical „Grimm!“ ein weiteres sehenswertes Highlight. Regisseur Matthias Knaab verliebte sich schnell in das Thema „Pippin“, nicht zuletzt, weil das Stück nicht hauptrollenlastig ist, sondern durch ein homogenes Ensemble glänzt, was sich perfekt für einen Amateur-Musical-Verein eignet. Respekt hatten die Darsteller allerdings vor der Revival-Inszenierung des Stückes, wo der Leading Player eine Gruppe Zirkusartisten und Gaukler anführte. Keiner sah sich ernsthaft auf dem Drahtseil balancieren oder am Trapez schwingen. Stattdessen setzte man ein neues Konzept um, was gleichzeitig die angestaubte Rahmenhandlung der 1970er Jahre ins nächste Jahrtausend katapultieren sollte. Der Leading Player wurde zum Regisseur, seine Gefolgsleute zu einem immer präsenten Kamerateam, das Pippin ähnlich einer Reality-Show eines Fernsehsenders durch sein Leben begleiten sollte. Und wie bei den aktuellen Fernsehformaten ist nicht alles real und „aus dem wirklichen Leben gegriffen“, sondern der Regisseur greift aktiv ins Geschehen ein, manipuliert die Charaktere und ist wegen der Einschaltquoten auf ein furioses Finale aus und geht dabei buchstäblich über Leichen. So sieht man sich zu Beginn des zweiten Aktes die bisherigen Highlights als Film an und belebt auch mal ermordete Monarchen, wenn es nach dem bisherigen Drehbuch nicht zum Erfolg geführt hat. Bravo für diese Metamorphose, die dem Musical aktuellen Bezug und noch mehr Tiefe gibt!
Live-Musik der Folkwang Hochschule, Choreographie und Kostüme
Erstmals gelang es dem Verein zudem, 18 Musiker der Folkwang Hochschule zu gewinnen, um die Musik nicht aus der Retorte, sondern live unter der Leitung von Simon Hassels zu spielen – wobei man damit so manche Produktion der Stage Entertainment locker in den Schatten stellt. Franziska Polten sorgte neben der Co-Regie auch als Choreografin dafür, dass die Darsteller in rund 100 zeitgemäß düsteren Kostümen mehr als nur einen Hauch von Bob Fosse tänzerisch auf die Bühne zauberten.
Corona Hygienekonzept
Das Damokles-Schwert Corona machte die Proben zusätzlich zur Tour de Force. In der Stadthalle Rheinberg fand man zudem eine Spielstätte, die mit zahlreichen 4 Personen-Logen auf mehreren Etagen das geforderte Hygienekonzept leichter umsetzbar machte, so dass Pippin kurz vor dem zweiten Theater-Lockdown an zwei Wochenenden vom 16.10. bis 24.10.20 in den geplanten 4 Vorstellungen reibungslos aufgeführt werden konnte.
Das Ergebnis aller Mühen konnte sich sehen lassen. Marc Herrmann durfte als Pippin letztendlich seinen Platz finden, „Wo ein Stück vom Himmel für mich liegt“ (als deutsche Fassung des bekanntesten Songs „Corner Of The Sky“). Susanne Zimmer gab einen diabolisch-verführerischen Leading Player, der als Regisseur immer alle Handlungsstränge fest in der Hand hielt. Arne Sell spielte Karl den Großen mit humoristischer Leichtigkeit und hatte mit Julia Koch als Gemahlin Fastrada eine erotische und gleichzeitig zielgerichtete Egoistin an seiner Seite, die ihren Sohn Ludwig, von Christian Hermanowski mit mehr Muckies als Gehirnschmalz dargestellt, protegierte. Brian Becker ist in Frauenkleidern und mit niederländischem Gebrabbel als Großmutter Bertha ein komödiantisches Highlight, während Rebecca Köpke den romantischen Ruhepol als Pippins Geliebte Katharina mit Jasmin Bala als lausbubenhaften Sohn Theo bildete.
Leider konnte das Stück im Jahr 2020 Corona-bedingt nur vor reduziertem Publikum gespielt werden, was für eine solche Ganzleistung einfach zu schade ist. Mit „Grimm!“ ging der Verein im Folgejahr in eine zweite Spielzeit, was ich mir für „Pippin“ ebenfalls wünsche, damit noch mehr Musicalfans in den Genuss dieser außergewöhnlichen und gelungenen Inszenierung eines selten in Deutschland gespielten Musicals kommen!
© Text und Fotos: Stephan Drewianka, Musical-World.de; dieser Bericht erschien ebenfalls in der Musical-Fachzeitschrift Blickpunkt Musical Ausgabe 109, Nr. 06/20