Musical Martin L. in Erfurt
Titel, Thesen, Temperamente? Welturaufführung Musical Martin L. auf den Domstufen
Heilige als Musicalstars am Originalschauplatz sind in: 2004-2006 Bonifatius in Fulda genauso wie 2007/08 Elisabeth – Legende einer Heiligen in Eisenach. Nun steht der Reformator Martin Luther im Rampenlicht in der Stadt, in der er 1501-1505 sein Studium an der philosophischen Fakultät in den Fächern Latein, Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie mit dem Titel Magister Artium abschloss. Nach Jesus Christ Superstar 2005 ist Martin L. das zweite Musical, das am 05. Juli 2008 bei den 15. Domstufen-Festspielen in Erfurt seine Open-Air Premiere feierte. Das Stück wurde vom Theater Erfurt bei den Norwegern Oystein Wiik (Libretto)und Gisle Kverndokk (Musik) eigens für 13 Aufführungen an der historischen Spielstätte direkt auf den Stufen zum Erfurter Dom und der St. Severi Kirche in Auftrag gegeben.
Luther in Oper und Musical
Bereits im September 2003 gab es zur Einweihung des Erfurter Theaterneubaus im Brühl zum gleichen Thema die Oper Luther von Peter Aderhold, von der jedoch nur noch abgesägte Orgelpfeifen als Kulisse in Erinnerung blieben. Sollte das Musical Martin L. ein ähnliches Schicksal beschieden sein? 14 Tage vor der Premiere wurden 14 überdimensionale, tonnenschwere Nägel mit einem immensen Aufwand in die Domstufen getrieben. Symbolisch stehen die bis zu 16 Meter hohen Nägel, von denen zwei durch die Schauspieler sogar besteigbar und bespielbar sind, für Luthers Thesenanschlag an die Kirchentür, die die Grundfesten der Kirche – oder hier eben die Domstufen – zersplitterten.
Entstehung Musical Martin L.
Oystein Wiik, selbst gefeierter Musicalstar für seinen Jean Valjean im Musical Les Miserables in London, Oslo und Wien, und Komponist Gisle Kverndokk, die gemeinsam schon die Musicals Sophies Welt (1998), Vincent Van Gogh (2001), Gefährliche Liebschaften (2002), Heimatlos (2003) sowie ganz aktuell zur Eröffnung des Osloer Opernhauses die Jules Verne-Oper In 80 Tagen um die Welt geschrieben haben, sind ein eingespieltes Produktionsteam mit einiger Erfahrung in ihrem Metier, auch wenn der ganz große Musicalerfolg bisher ausblieb. Schon im Vorfeld des Luther-Projektes gab es einige künstlerische Differenzen mit Auftraggebern und Kirche, insbesondere ging es dabei um die Erfindung der Jugendliebe Luthers, im Stück Ursula genannt, die es im wahren Leben des Reformators nicht gegeben hat. Vielleicht führte diese Figur auch dazu, dass das Musical den Titel Martin L. – Das Musical bekam, sollte der anonymisierte Name die Tatsache hervorheben, dass es sich bei dem Titelhelden um einen normalen Menschen mit Gefühlen handele und nicht um die alleinige Darstellung historischer Fakten aus dem Leben des Reformators. Aber ist Luthers Leben im Kampf gegen die Allmacht der katholischen Kirche so unspektakulär, dass man noch eine erfundene Jugendliebe für eine passable Bühnenhandlung einbauen musste?
Handlung und Geschichte des Musicals Martin L. in Erfurt
Nach Abschuss seines ersten Studiums beginnt Luther mit dem Studium der Rechtswissenschaften. Doch auf der Rückreise von seinem Elternhaus nach Erfurt überrascht ihn am 02. Juli 1505 ein heftiges Gewitter. Luther schwört in Todesangst der heiligen Anna, dass er Mönch werden wird, sollte er das Gewitter überleben. Gegen den Willen seines Vaters tritt Luther daraufhin am 17. Juli ins Erfurter Augustinerkloster ein, wo er nach vorbildlicher Einhaltung der Ordensregeln bereits 1507 zum Priester geweiht wird. Seine Frage nach dem gnädigen Gott und dem Sakrament der Buße veranlasst ihn, in Wittenberg 1508 ein Theologiestudium zu beginnen. Nach einer Reise nach Rom beschäftigt er sich immer intensiver mit der Gerechtigkeit Gottes und erfährt in Meditation im Südturm des Wittenberger Augustinerklosters durch einen Bibelvers die Erleuchtung zu einer neuen Interpretation der heiligen Schrift, dass Gottes Gerechtigkeit ein Gnadengeschenk ist, welches den Menschen durch den Glauben an Jesus Christus gegeben wird. Nun wendet sich Luther aktiv gegen die römisch-katholische Praxis der Ablassbriefe, die für eine Gebühr, die den Bau des Petersdoms in Rom finanzieren soll, göttliche Vergebung der Sünden garantiert. Der Mainzer Kardinal Albrecht schickt 1517 seinen Ablassprediger Johannes Tetzel auch nach Sachsen, um seine Schulden bei den Fuggern zu tilgen und sein Kurfürstenamt zu finanzieren. Luther verfasst 95 Thesen gegen diese Ablassbriefe, die öffentlich auf breite Zustimmung stoßen und die Reformation auslösen. Kardinal Albrecht zeigt Luther in Rom an, Tetzel verfasst Gegenthesen und Luther erhält im April 1518 bei der Heidelberger Disputation die Gelegenheit, seine Theologie zu erläutern, was ihm weitere Anhänger beschert.
Durch gefälschte Thesen seiner Widersacher soll Luther bereits im Juni 1518 in Rom der Ketzerei angeklagt werden, doch mit Unterstützung des sächsischen Kurfürsten, der Papst Leo X. politisch unterstützt, und in Berufung auf Luthers angegriffene Gesundheit, soll Luther der Prozess auf deutschem Gebiet beim Reichstag zu Augsburg gemacht werden. Sein Prozess zieht sich über mehrere Jahre hin, was letztendlich zu Luthers Bruch mit der Kirche führt. Luther verfasst reformatorische Schriften, die durch den aufkommenden Buchdruck weite Verbreitung finden. 1521 soll Luther vor dem Reichstag zu Worms erneut widerrufen, doch er bleibt beständig mit dem Zitat »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.« Mit dem Wormser Edikt wird Luther vogelfrei erklärt und von seinen Anhängern zum eigenen Schutz entführt und auf die Wartburg in Eisenach gebracht, wo er inkognito unter dem Namen Junker Jörg das neue Testament in nur elf Wochen ins Deutsche übersetzt. Die Lutherbibel bringt Religion zum ersten Mal dem einfachen Volk nahe und verursacht Aufstände, die durch den Lutherschüler Thomas Müntzer noch angeheizt werden. Luther kehrt nach Wittenberg zurück, um das Volk mit seinen Predigten von maßvolleren Reformen zu überzeugen. Doch Thomas Müntzer nutzt die Unruhen und vereinigt die Bauern zu einem großen Aufstand, der ihnen auch soziale Befreiung von der Ausbeutung durch die Kurfürsten garantieren soll. Luther distanziert sich von diesem Vorhaben und das 5000 Mann starke Bauernheer von Müntzer wird blutig von dem Fürstenheer niedergeschlagen, Müntzer gefasst und enthauptet.
Mit dem Tod Müntzers und den Zweifeln Luthers endet das Musical, das sich in seinem zweiten Teil durchaus an den historischen Fakten orientiert, diese aber nur mosaikartig und unzusammenhängend dokumentiert. Die Frage bleibt im Raum stehen, warum das Musical mit Martins fiktiver Liebe zur Bürgerstochter Ursula Schalbe beginnt, die bereits mit Georg Kieritz verlobt ist. Martin, Ursula und Georg spielen gemeinsam in einer Opernaufführung (Dantes göttlicher Komödie) mit, doch auch hier gewinnt Georg im Kampf um seine Dame. Ursula ist zwischen den beiden Männern hin und her gerissen und entzieht sich der Entscheidung durch den Eintritt in ein Kloster. Zeitgleich werden Ursula zur Nonne und Martin zum Priester geweiht, doch damit sind ihre Lebenswege für immer voneinander getrennt. Sollte der einzige Grund im Hinzufügen dieser zeitlich sehr intensiven Liebesgeschichte, die immerhin die Hälfte der rund 100 minütigen Aufführungsdauer in Anspruch nimmt, in der Verwendung der Liebesballade »Lass mich nicht los« begründet sein, die sich wie ein Leitmotiv durch das ganze Musical zieht? Dieses Liebesduett ist kitschig und wirkt in der übrigen Komposition wie ein Fremdkörper – vielleicht weil es fast ein Ohrwurm ist und praktisch als einziges Lied an eine konventionelle Musical-Ballade erinnert.
Die restlichen Songs sind opernhaft breit angelegt, sicherlich bombastisch vorgetragen von dem 60 Personen-Symphonieorchester unter der Leitung von Phillip Tillotson, das auch noch um eine kleine Rockband mit E-Gitarre verstärkt wird. Doch gleichzeitig wirkt der musikalische Bogen zwischen Kyrie und Irish Folk leider bemüht bis langweilig, es fehlen die musikalischen Momente, die man immer wieder hören möchte. Ein Höhepunkt ist sicherlich die Swing-Nummer mit einem Golf spielenden Papst, der mit seiner unterwürfigen Gefolgschaft den lukrativen Ablasshandel wie ein »Hole In One« feiert. Die surreale Szene mit den modernen Golfwagen erinnert sicherlich nicht durch Zufall an den »King Herods Song« aus Jesus Christ Superstar, ist aber trotzdem mit den Charleston tanzenden violetten Kardinälen ein echter Showstopper, wovon man gerne mehr gesehen hätte. Wie eine Mischung aus Lucheni-Erzähler und Unisex-Tod aus Elisabeth wirkt die Figur des Junkers Jörg, die als Alter-Ego-Gewissen von Luther in schwarzem Lack und Leder als ewiger Nörgler jede Handlung von Luther hinterfragt und omnipräsent die Geschichte dokumentiert. Die wenig sagende Musik kann nicht überzeugen und das Libretto (deutsch von Carola Schiefke und Stephan Knopf) verstärkt noch diesen Eindruck. Neben der vulgären Sprache, die auf den ersten Blick nicht recht ins Mittelalter passen will, jedoch bei den historisch belegten Luther-Zitaten wie »Aus einem glücklichen Arsch kommt ein fröhlicher Furz« durchaus ihre Berechtigung haben mag, stehen literarisch »wertvolle« Textzeilen wie »Martin ist der Mann, er führt uns an!«, »Bist Du geistig rege, gibt es viele Wege« oder »Ein Mönch stellt sich dem Papst entgegen, wird bald seinen Sündenpfuhl trocken legen«.
Ist Martin L. aus diesen Gründen ein Musical-Reinfall, den es wie die damalige Luther-Oper besser schnell zu vergessen gilt? Nicht unbedingt, denn trotz der Schwächen in Musik, Buch und Text wird den fast 2000 Zuschauern eine imposante Show auf den Domstufen geboten. Die Kulisse in der Ausstattung von Knut Hetzer ist atemberaubend. Nicht nur die riesigen Nägel, auch die atmosphärische Ausleuchtung (Stefan Winkler) überzeugen durchweg: ob im schicksalhaften Gewitter oder mit blutrot illuminiertem Dom, der scheinbar bei den Bauernaufständen in Flammen steht, entstehen immer wieder neue und faszinierende Bilder. Die Kostüme von Susanne Ahrens und Konstanze Klusch wirken bis in die letzte Reihe edel authentisch und das nicht nur bei den Kurfürsten und Kardinälen, sondern auch bei den ärmlichen Bauern und den Klostergewändern. Mathias Davids inszenierte nach den schwachen Vorgaben des Buches recht straff und ihm gelingen im zweiten Teil des durchgespielten Stückes durchaus einige starke Momente, wenn sich Luther und Müntzer hoch auf den Nägeln ein temperamentvolles Wortduell liefern.
Bildgewaltig wird es zudem immer dann, wenn die insgesamt 70 Mitwirkenden aus Statisterie und Opernchor die Domstufen füllen, ob bei Dantes »himmlischer Komödie«, dem päpstlichen Golfturnier, der Bildzensur oder den niedergeschlagenen Bauernaufständen. Zudem können die Hauptdarsteller durchweg überzeugen: Yngve Gasoy-Romdal ist mit seiner vibrierenden Beltstimme ein gläubiger Mönch, den seine Selbstzweifel in Person des immer zynischen Carsten Lepper zerfressen. Ebenfalls brillant agieren der stimmstarke Matthias Sanders als gewaltverliebter Rebell Thomas Müntzer, Fernand Delosch als aggressiver Ablasshändler Tetzel und als Gegenpol zu geistlichen und politischen Intrigen die bezaubernde Petra Madita Kübitz als verliebte Bürgertochter Ursula, die jedoch im zweiten Teil des Stückes nur noch selten als überflüssige Randfigur auftritt. Leider gewährt die dubiose Partitur keinem dieser Darsteller ein Solo, das den Fähigkeiten der Musicalprofis gerecht werden kann.
Am Ende der zweiwöchigen Spielzeit von Martin L. zählte der zufriedene Generalintendant Guy Montavon rund 25000 Besucher des Musicals, sicher ein Beweis dafür, dass schon der Zusatz »Musical« viele Menschen auf die Tribüne vor die Domstufen locken konnte. Doch werden vielen Zuschauer vom Musical Martin L. nur die mächtigen Nägel in bleibender Erinnerung behalten. Eigentlich schade… Im nächsten Jahr wird, wie schon bei den ersten Domstufen-Festspielen 1994, eine Neuinszenierung von Carl Orffs Carmina Burana in Erfurt auf dem Spielplan stehen und dann sicherlich mir einer Musik, die dem szenischen Spektakel vor dem Dom in nichts nachsteht und dem Publikum auch akustisch im Gedächtnis bleiben wird.
© Text & Fotos by Stephan Drewianka, Musical-World.de; dieser Bericht über das Musical Martin L. in Erfurt erschien ebenfalls in der Fachzeitschrift Blickpunkt Musical, Ausgabe 05/08, Herbst 2008