Dear World © Sarah Jonek Fotografie / Theater Bielefeld
Dear World © Sarah Jonek Fotografie / Theater Bielefeld
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Premiere des Musicals „Dear World“ in Bielefeld

Nur kurz die Welt retten

Was wäre, wenn der Gast eines Pariser Cafés nach dem Genuss eines Glases Wasser, das verdächtig muffig schmeckt, daraus auf ein immenses Ölvorkommen direkt unter diesem Café schließen würde und drei Präsidenten auf der Suche nach neuen Investitionsideen davon überzeugen könnte, ganz Paris in eine sprudelnde Ölquelle zu verwandeln – zumal der Eiffelturm doch eigentlich schon wie ein Bohrturm aussieht? Siegt die Gier nach Geld oder kann das historisch und kulturell wertvolle Städtchen an der Seine weiterhin so wie in den Geschichtsbüchern existieren? Diese Frage stellt sich das Theaterstück „La Folle de Chaillot“ von Jean Giraudoux, das von Jerome Lawrence und Robert E. Lee (Buch) mit der Musik von Jerry Herman („Hello Dolly“, „Mame“, „La Cage Aux Folles“) 1969 als Musical adaptiert wurde.

Vom Broadway nach Bielefeld

Bei der Broadway Premiere spielte die kürzlich verstorbene Angela Lansbury die Titelrolle der leicht wunderlichen Gräfin Aurelia, für deren Interpretation sie den Tony Award als beste weibliche Hauptdarstellerin in einem Musical gewann. Konzipiert als Kammermusical war die Broadway-Fassung mit dem Star der Produktion zu opulent und aufgeblasen für die Handlung, so dass die Show bereits nach 132 regulären Aufführungen schließen musste. Schon 1982 feierte das Musical Dear World am Stadttheater Aachen deutschsprachige und gleichzeitig europäische Erstaufführung. Doch erst im Jahre 2000 überarbeitete David Thompson das Stück zum intimeren Original und fügte drei neue Songs hinzu. Diese Neufassung nahmen sich Frederike Haas und Melanie Haupt vor und schrieben neue deutsche Texte, deren Deutschlandpremiere das Theater Bielefeld in der Inszenierung von Thomas Winter am 01. Oktober 2022 zeigte. 

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Handlung und Charaktere des Musicals Dear World

Kehren wir zurück ins Pariser Café Francis, in dem die drei Präsidenten nun ihren Assistenten Julien beauftragen, im Café eine Bombe zu zünden, um das Ölbohrvorhaben vorantreiben zu können. Julien jedoch ist verliebt in die Kellnerin Nina und springt mit der Bombe in die Seine. Julien wird als Ertrunkener vom Wachtmeister ins Café gebracht und wiederbelebt. Stammgast Gräfin Aurelia entgeht nicht, wie sehr sich Julien und Nina nahekommen und geht energisch dazwischen als ein Präsident zurückkehrt und Julien wegen des gescheiterten Plans Morddrohungen an den Kopf wirft. Da Gräfin Aurelia nun die Pläne der Präsidenten kennt, fragt sie den Abwasserkanal-Mann nach den Hintergründen und erfährt vom maroden Zustand der Pariser Kanalisation und dem tatsächlichen Zustand ihrer vermeintlich heilen Welt. Aurelia schmiedet gemeinsam mit ihren Freundinnen Gabrielle und Constance einen Plan, die Welt von den Spekulanten zu befreien. Ob dies rechtens ist, wird zunächst in einer eiligst einberufenen, fiktiven Gerichtsverhandlung geklärt. Mit dem gefällten Urteil lädt Gräfin Aurelia die Präsidenten in ihr unterirdisches Haus ein, zeigt ihnen einen geheimen Zugang zur Kanalisation und den vermeintlichen Ölquellen, und sperrt sie mit Hilfe des Abwasserkanal-Mannes schließlich für immer weg. Die Welt ist gerettet und Nina und Julien steht einer gemeinsamen Zukunft nichts mehr im Wege.

Harmonische Musik mit satirisch-bissigen Songtexten

Der Inhalt des Musicals „Dear World“ mutet oft bizarr an mit den liebevoll agierenden, aber völlig skurrilen Charakteren, und trotzdem ist das 53 Jahre alte Stück thematisch aktueller denn je. Die Widersprüchlichkeiten zwischen wundervoll harmonischer Musik, in der Herman alle Register von schmissigen Tänzen, triumphalen Märschen, symphonischer Filmmusik bis zur kitschigen Liebesballade zieht und die von William Ward Murta opulent mit viel Pariser Flair umgesetzt wird, und den satirisch-bissigen Songtexten macht beim Zuhören besonders viel Spaß. Bestes Beispiel dafür ist das „Fröhliche Frühlingslied“, das zu Beginn des zweiten Aktes von den Spekulanten zu zuckersüßen Melodie intoniert wird und mit folgenden Textzeilen herrliche Akzente setzt: „Welch ein lieblicher Duft in der Luft, wenn das Abgas verpufft in der Luft. Und Dein Trommelfell platzt, wenn die klingende Axt durch die Frühlingsluft schwingt. Jedes blühende Bäumlein kollabiert wie im Flug. Jeder qualmende Schornstein inhaliert Zug um Zug und kriegt nie genug.“ Seit 1969 scheinen sich die Probleme der lieben Welt kaum verändert zu haben. Zu verdanken sind diese bitterbösen neuen, deutschen Zeilen u.a. der Hauptdarstellerin der „Irren von Chaillot“ Frederike Haas, die bei der Recherche nach Songs für ein eigenes Programm durch Zufall auf den Titelsong des Musicals stieß, was sie neugierig auf das ganze Stück machte, und die ihre Begeisterung bei ihrem Engagement für „The Goodbye Girl“ 2021 auch auf das Kreativteam des Theaters Bielefeld übertragen konnte, so dass sie schließlich bei den Verlagen grünes Licht für die neue, deutsche Übersetzung erhielt.  
 

Die Darsteller und ihre Rollen

Als Gräfin Aurelia kostet Frederike Haas ihre eigenen Texte in der Rolle der emanzipierten Weltretterin, romantischen Kupplerin und ideenreichen Umweltaktivistin voll aus und darf mit ihren Verschwörungspartnerinnen Cornelia Isenbürger als Constance und Carlos Horacio Rivas als charmante Gabrielle(!) bei ihrer „Tea Party“ einen wundervoll dreistimmigen Kanon über verwirrende Erinnerungen verflossener Beziehungen singen. Das noch zusammenzuführende Liebespaar spielen Rebecca Lorenz als Kellnerin Nina und Michael B. Sattler (Teil des Trio Infernale aus Tecklenburgs „Der Besuch der alten Dame“) als sympathischer Julien, dem Gentleman-beinahe-Gauner mit Gewissen. Jennifer Pöll hat als „Die Stumme“ mit Gebärdengesten erstaunlich viel zu sagen und ist der mahnende Finger der Pariser Gesellschaft im Sumpf von Korruption und Geldgier. Dirk Weiler wird als Abwasserkanal-Mann zum Insider für ökologische Fragen und kennt sich im Untergrund von Paris besser aus als das Phantom der Oper. Jens Janke gibt einen immer hilfsbereiten Wachtmeister ganz im Stile eines Gendarms von Saint Tropez, während Alexander von Hugo als Kellner im Café Francis dort für Recht und Ordnung sorgt. Weil das Musical mit neun Darstellern auskommt, schlüpfen einige Schauspieler gekonnt in die weiteren Rollen des Prospektors und der drei Präsidenten. 
 

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Bühnenbild und Kostüme

Das ins stimmungsvolle Licht von Johannes Paul Volk getauchte Bühnenbild von Toto ist eine Hommage an das Bielefelder Kachelhaus von 1928 mit seinen grünen Meißner Kacheln, das zugereiste Gäste auf den ersten Blick vielleicht mit einem Schwimmbad verwechseln könnten. Die Kostüme sind prinzipiell zeitgemäß, abgesehen von den viktorianischen Gewändern der drei Gräfinnen, die im krassen Gegensatz zu dem modernen Gedankengut der Trägerinnen stehen. Immer passend zur schwungvollen Musik ist die gelungene Choreografie von Jerôme Knols.
Das Stück beschließt die Stumme mit Worten, die selbst in der heutigen Zeit Zuversicht und Hoffnung geben:  „Die Traurigkeit fliegt auf den Flügeln des Morgens dahin – und aus dem Herzen der Dunkelheit kommt das Licht!“

Besetzung
GRÄFIN AURELIA Frederike Haas
DER ABWASSERKANAL-MANN Dirk Weiler
MME. CONSTANCE / PRÄSIDENT 1 Cornelie Isenbürger
DER PROSPEKTOR / MME. GABRIELLE Carlos Horacio Rivas
NINA, KELLNERIN IM CAFÉ FRANCIS Rebecca Lorenz
JULIEN Michael B. Sattler
DER WACHTMEISTER / PRÄSIDENT 2 Jens Janke
DER KELLNER / PRÄSIDENT 3 Alexander von Hugo
DIE STUMME Jennifer Pöll

Musical von Jerry Herman (Musik und Songtexte) und Jerome Lawrence mit Robert E. Lee (Buch) / Neue Version von David Thompson / Basierend auf La Folle de Chaillot von Jean Giraudoux in der Bearbeitung von Maurice Valency / Deutsch von Frederike Haas und Melanie Haupt / Deutsche Erstaufführung dieser Fassung

Musikalische Leitung William Ward Murta / Inszenierung Thomas Winter / Bühne und Kostüme Toto / Choreografie Jerôme Knols / Dramaturgie Jón Philipp von Linden / Mit Frederike Haas / Alexander von Hugo / Cornelie Isenbürger / Jens Janke / Rebecca Lorenz / Jennifer Pöll / Carlos Horacio

© Stephan Drewianka, dieser Bericht erschien ebenfalls in der Musical Fachzeitschrift Blickpunkt Musical - 06-22 - Ausgabe 120,
Bühnenfotos © Sarah Jonek Fotografie / Theater Bielefeld, Fotos Schlussapplaus © Stephan Drewianka
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