Whistle Down The Wind © Stephan Drewianka
Whistle Down The Wind © Stephan Drewianka
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Deutschlandpremiere des Webber Musicals „Whistle Down The Wind“ 2019 in Gießen

Jesus nur für Kinderaugen

Sir Andrew Lloyd Webber (Musik) und Jim Steinman (Texte) entwickelten das Musical Whistle Down The Wind“ nach der Novelle von Mary Hayley Bell und dem gleichnamigen Film von Richard Attenborough und Bryan Forbes aus dem Jahre 1961. Nach einer gefloppten Uraufführung am 12.12.1996 in Washington wurde der geplante Broadway-Transfer auf Eis gelegt. 1998 produzierte Webber ein Konzeptalbum mit namhaften Künstlern, die Songs seines Musicals als Popversionen vorstellten. Mit Interpreten wie Bonnie Tyler, Boy George, Tom Jones, Meat Loaf und den Everly Brothers wurde das Interesse des Publikums geweckt, jedoch die Single „No Matter What“ von Boyzone toppte als Nummer-1-Hit in 18 Ländern alle Erwartungen. Auch der Eröffnungssong der Olympischen Winterspiele in Nagano mit der von 150 Kindern dargebotenen, japanischen Fassung des Titels „When Children Rule The World“ war eine pfiffige Werbung für das Musical, das dann am 01.07.1998 seine Londoner West-End Premiere feiern durfte. Nach rund 1000 Vorstellungen folgten Tourneeproduktionen in England und Amerika. 2017 schrieb Nina Schneider eine deutsche Übersetzung, die im Mai 2018 im Theater im Neukloster in der Wiener Neustadt ihre österreichische Erstaufführung erlebte.

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Deutschlandpremiere von Whistle Down the Wind

Vom 05.04. bis 14.04.2019 war „Whistle Down The Wind“ für 6 Vorstellungen erstmals zu Gast in Deutschland, jedoch nicht als professionelle Stadttheater-Aufführung, sondern als Schulaufführung in der frisch sanierten Turnhalle A am Landgraf-Ludwigs-Gymnasium in Gießen. Die LLG-Musical Company führte 2013 bereits „Fame“, 2014 „Jekyll & Hyde“ und 2016 „Natürlich Blond“ auf und nahm sich für 2019 sehr ambitioniert eine echte Deutschlandpremiere vor. Ein Webber-Musical von Schülern interpretiert? Im Fall von „Whistle Down The Wind“ liegt dieser Bezug ähnlich wie bei „Joseph And The Amazing Technicolor Dreamcoat“ eigentlich nahe, denn Kinder spielen in beiden Stücken eine zentrale Rolle.

Die Handlung des Musicals

Das Musical spielt 1959 in einer Kleinstadt in Louisiana. Zwei Tage vor Weihnachten retten die drei Geschwister Swallow, Brat und Poor Baby kleine Kätzchen, die im Fluss in einem Sack zum Ertrinken ausgesetzt wurden. Die Kätzchen trösten die Kinder etwas über den Verlust ihrer Mutter hinweg. In der Scheune verstecken sie die Kätzchen vor dem strengen Vater, der die Erziehung der jüngeren Geschwister seiner ältesten Tochter Swallow übertragen hat, die mit diesem Erbe aber überfordert ist. Zu den Kindern platzt ein fremder Mann, der an Füßen und Händen verwundet ist. Als Swallow ihm nach seinem Namen fragt, bricht er mit den Worten „Jesus Christus“ ohnmächtig zusammen. Die gläubig erzogenen Kinder sind begeistert, denn wenn Jesus in ihrer Scheune ist, könnte er doch die verstorbene Mutter durch ein Wunder auferstehen lassen. Die Kinder wollen Jesus gesund pflegen.
In der Welt der Erwachsenen macht die Nachricht von einem aus der Strafanstalt entflohenen Mörder die Runde. Alle suchen den Sträfling und wollen ihn zur Strecke bringen.
Obwohl Swallow den Kleinen das Versprechen abnimmt, nichts über Jesus in der Scheune zu verraten, spricht sich das Gerücht schnell unter den Kindern herum, die Jesus Geschenke bringen und dafür von ihm Geschichten hören wollen. Statt Gleichnisse aus der Bibel zu erzählen, berichtet Jesus von Spielern und Huren. Und Swallow bittet er um den Gefallen, ihm ein Paket aus einem Versteck zu holen. Mit Hilfe ihres Kinderschwarms Amos, der sie auf seinem Motorrad mitnimmt, kann Swallow das Päckchen aus einem Eisenbahntunnel bergen, wird dabei fast von einem Zug überrollt und von der Polizei gestellt. Trotzdem kann sie das Paket schließlich bei Jesus abliefern, der wirklich gerührt von ihrem Einsatz ist und Gefühle für Swallow entwickelt. Als Lohn erwartet Swallow, dass Jesus nun ihre Mutter zurückbringt, doch der kann Poor Baby nicht einmal erklären, warum eins der Kätzchen sterben musste.
Candy, die von Amos wegen Swallows Tour versetzte Freundin, berichtet den Erwachsenen vom fremden Mann in der Scheune. Sofort sind die Erwachsenen überzeugt, dass es sich um den gesuchten Mörder handeln muss und rennen als wütender Mob zur Scheune, die aber von allen Kindern bewacht wird. In der Scheune packt Jesus eine Pistole aus dem Paket aus, als Swallow die Scheune betritt, um ihn vor dem Lynchmob zu warnen. Im dramatischen Finale geht die Scheune in Flammen auf und die Kinder feiern begeistert ihr Weihnachtsfeuer. In der Brandruine findet die wiedervereinigte Familie aber keine Spur vom fremden Mann…

Übersetzung, Inszenierung und musikalische Umsetzung

Die Übersetzung von „Whistle Down The Wind“ ins Deutsche ist sehr gut gelungen. Bei den über 8 Minuten Balladen von Jim Steinman kommt so etwas wie ein wohliges „Tanz der Vampire“/“Bat Out Of Hell“-Feeling auf, während die Webber-typische Hymne „Flüster es dem Wind“ oder das Kinder gegen Erwachsene-Duell „Egal was Alle sagen“ Gänsehaut verursachen. Die Thematik christlicher Glaube gegen Aberglaube, der durch einen Schlangenbeschwörer-Sektenkult ebenfalls vertreten ist, wird überlagert von der Frage, ob in heutiger Zeit nur naive Kinderaugen einen wiederkehrenden Heiland erkennen würden, während Erwachsene von Hass verblendet sind. Wem dies als Zuschauer zu metaphorisch ist, freut sich über die Zusammenführung einer zerbröckelnden Familie.

Martin Ballmeier (Regie und musikalische Leitung) stellte zusammen mit Lorena Glatthaar (Dance-Captain), Katrin Schwalb (Chorleitung) und einem engagierten Team aus aktuellen und ehemaligen Schülern nach über 15-monatiger Probenzeit eine Produktion auf die Beine, die mit einem Durchschnittsalter von 17,4 Jahren aller Teilnehmer doch wesentlich mehr ist, als eine Schulaufführung. Das Bühnenbild von Mathis Görke ist unter der technischen Leitung von Paul Hermann dank Videoprojektionen auf zwei semitransparenten Vorhängen plastisch und lebendig, was insbesondere die Motorradszene bei „Ein Kuss ist ein flüchtiger Augenblick“ zu einem sehenswerten Highlight macht. Ein 17-köpfiges Orchester wurde in der Turnhalle dort untergebracht, wo eigentlich die Turngeräte verstaut werden, das dann vor jedem Akt für ein gerichtetes Sounddesign (Rouven Ziegler) mit geschlossenen „Garagentüren“ vom restlichen Saal isoliert wurde.

Darsteller und Cast

Gesanglich und schauspielerisch überzeugten Daphne Przybilla als Swallow (alternierend: Leah Falkenstein), Denes Lich als Amos, Erik Radtke als der Mann, Johanna Peller (alternierend: Franziska Laun) als Brat, Inga Ströde als Poor Baby, Emily Goer als Candy, Niels Berndt als Edward und Achim Ströde als rockiger Radiosänger. Ein großes Lob auch an alle Kinder der 6. und 7. Klassen, die mit viel Spaß bei der Sache waren, harmonisch gesungen und getanzt haben. Auch wenn sich beim Orchester und den Sängern eventuell mal ein schräger Ton dazwischen mogelte, dürfen alle Mitwirkenden mit dem Ergebnis mehr als zufrieden sein und zu Recht stolz auf ihr Musical zurückblicken.

Es ist sehr erfreulich, dass dank des Engagements der LLG Musical Company „Whistle Down The Wind“ endlich seine Deutschlandpremiere feiern durfte. Der Rahmen dazu war mehr als passend. Durch den hohen Anteil an Kindern wird es in Deutschland schwer bis unmöglich sein, dieses Stück auf einer Stadttheater-Bühne oder gar als Long-Run aufzuführen. Es wäre schön, wenn sich andere Schulen dem Vorreiter Gießen anschließen würden, damit es weiterhin auch in Deutschland heißen kann: „When Children Rule The World“!

© 2019 Text und Fotos: Stephan Drewianka; dieser Bericht erschien ebenfalls in der Fachzeitschrift Blickpunkt Musical, Ausgabe 100 (3/19), Mai-Juli 2019

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