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Kai Tietje: Musical am Stadt-Theater

Interview mit dem musikalischen Leiter Kai Tietje

Direkt nach der Premiere von Fame sprach ich mit Kai Tietje, der seit 1999 Dirigent am Musiktheater im Revier ist und für die musikalische Leitung der Musicalproduktionen Crazy For You, Anything Goes, Nullvier – Keiner Kommt An Gott Vorbei und Fame verantwortlich war.

Musical-World: Welchen Stellenwert nehmen Musicals in einem Stadt-Theater wie dem MIR ein, an dem Oper, Operette und Ballett auf dem Spielplan stehen?

Kai Tietje: Im Allgemeinen ist das Musical Ersatz für die Operette, denn bei uns wurde schon lange keine Operette mehr gespielt. Der Stellenwert des Musicals in diesem Haus hier in Gelsenkirchen ist ziemlich hoch. Wir inszenieren mittlerweile zwei Musicals pro Jahr, seitdem wir das Schalke-Musical Nullvier – Keiner kommt an Gott vorbei kurzfristig in unseren Spielplan mit reingenommen hatten, das zusätzlich nur Anything Goes spielte.

Musical-World: Warum werden so häufig Standardstücke wie Hello Dolly, La Cage Aux Folles und Rocky Horror Show gespielt?

Kai Tietje: Das ist speziell im MIR nicht der Fall. Mit Crazy For You, Nullvier, Fame und demnächst The Life, welches ein aktuelles Stück aus New York ist, wollen wir mehr Zuschauerschichten erreichen als nur die, die sich für Oper interessieren, speziell mehr junge Leute. Wir sind in diesem Genre experimentell und unser Intendant ist hier als Vorreiter tätig. Wir gehören zu den 8 – 10 Häusern in Europa, die bestimmte Stücke als Erste aufführen dürfen.

Musical-World: Wie sieht es mit den Rechten aus?

Kai Tietje: Die Rechte werden bei bestimmten Verlagen in Amerika gekauft bzw. werden dann von den hiesigen Vertretungen freigegeben. Das ist manchmal recht schwierig. Unser Intendant hatte z.B. verschiedene Musicals gesehen, deren Rechte er nicht bekommen konnte, weil sie noch relativ neu waren. Das ist etwa wie bei den Filmen, die von der Großstadt in die Kleinstadt gehen, also man will erstmal ausschöpfen was zu holen ist und dann gibt man sie frei für andere.

Musical-World: Ist es für Stadt-Theater schwierig, Stücke wie Dracula oder Aspects Of Love zu bekommen?

Kai Tietje: Ja, die wären nicht zu bekommen. Diese Stücke werden exklusiv in den Häusern aufgeführt, für die das Stück gemacht wurde. Und wenn die Welle vorbei ist, dann geht es ans Stadt-Theater.

Musical-World: Kann ein modernes Musical auch was für den Theaterkreis im Abonnement sein?

Kai Tietje: Nein, solche Stücke gehören nicht ins normale Abonnement. Diese Leute möchten nur eine Oper oder Operette genießen und nicht ein Musical wie FAME, das ihnen vielleicht viel zu laut und poppig ist. Aber die Reaktionen auf dieses neue Stück müssen wir erstmal abwarten. Der Premierenabend heute ist sehr positiv angekommen. Und so stark verrockt waren wir noch nie – bis auf die Rocky Horror Show. Mal sehen, was die Leute zu dieser Inszenierung sagen.

Musical-World: Wer entscheidet, welches Musical in der nächsten Spielzeit aufgeführt wird?

Kai Tietje: Ausschließlich der Intendant, der natürlich beraten wird. Er bespricht das mit mir, seinem Kapellmeister für Musicalinszenierungen. Aber der ganze Spielplan ist letztendlich seine Entscheidung.

Musical-World: Was mögen Sie persönlich lieber. Ein flippiges neues Stück oder ein klassisches Musical?

Kai Tietje: Ich persönlich liebe die Klassiker. Nicht gerade Show Boat, aber Anything Goes - so ein Swing-Musical, das mit Orchester gespielt wird und gleichzeitig vom Rhythmus her modern ist. Die Klassiker werden ja nicht mehr wie damals gespielt. Zum Beispiel wurde Crazy For You Ende der Achtziger Jahre für den Broadway komplett neu arrangiert, mit modernem Rhythmus und fetzigen Tanzteilen und diese Mischung ist einfach phantastisch. Aber mit FAME mache ich eine komplett neue Erfahrung, die auch Spaß macht.

Musical-World: Können Sie sich als musikalischer Leiter selber einbringen?

Kai Tietje: Oh ja, bei den Musicals bringt man sich weit mehr ein, als es bei Opern der Fall ist. Weil man das Stück eigentlich neu erfindet. Zusammen mit dem Regisseur überlegt man sich, wo man einen Übergang einfügt, ob etwas nicht ein wenig angeschärft oder verkürzt, verlängert oder gar ausgetauscht wird. Da wird soviel gebastelt bis letztendlich ein eigenes Arrangement herauskommt. Doch dies ist nicht immer möglich. Zum Beispiel bei Gershwin darf man nichts verändern. Das wird sich wohl erst an seinem 70. Todestag ändern. Wie ich hörte, kann man dann wieder gestalten, wie man will. Aber das kann auch gefährlich werden. Durch die Erben, die sich die Generalprobe anhören, kann ein Theater schnell in Konflikt geraten, so dass die Premiere gestrichen wird, weil der Regisseur zu große Änderungen vorgenommen hat.

Musical-World: Bei FAME wurden praktisch keine Lieder aus dem Film gespielt.

Kai Tietje: Die Film-Musikrechte hatten wir nicht bekommen, außer den Haupttitel FAME, der auch in unserem Musical untergebracht wurde. Ansonsten hatten wir die strenge Auflage, nichts aus dem Film zu übernehmen, obwohl wir es gerne getan hätten.

Musical-World: Bei Show Boat gab es nicht zum ersten Mal eine Kooperation mit einem anderen Theater wegen der aufwändigen Kulissen. Ist es wichtig, mit anderen Theatern zusammen zu arbeiten?

Kai Tietje: Das ist sicher eine Kostenfrage. Es rechnet sich einfach, weil kein neues Bühnenbild gebaut werden muss. Und wenn bestimmte Requisiten vorliegen die man gebrauchen kann, ist das natürlich eine große finanzielle Erleichterung. Aber wenn es nicht so richtig ins Haus passt und erst Änderungen vorgenommen werden, die wieder Geld kosten, sind das wiederum die negativen Seiten einer Kooperation.

Musical-World: Wie läuft ein Casting am Stadt-Theater ab?

Kai Tietje: Wir schreiben gar nicht groß aus. Das spricht sich in der Szene so schnell rum, dass wir unsere Casting Termine sofort voll haben. Wir sagen nur intern einen Termin an und schon haben wir 50 Leute am Tag zum Vorsingen. Wir haben meistens ein Hauptcasting und ein Callback bei Leuten, wo wir uns noch nicht ganz sicher sind, oder meistens für die Hauptrollen, wo wir noch mal vorsprechen lassen, ob derjenige die Rolle auch wirklich ausfüllen kann.

Musical-World: Noch einmal zu FAME – was wir hier gesehen haben ist das typisch amerikanisch oder kann man das auf eine Ausbildung in Deutschland übertragen?

Kai Tietje: Hier geht es schon anders zu. In New York gibt es die High School of Performing Arts, die auf Staatskosten auch Minderbemittelten eine grundlegende Ausbildung erteilt. Das Besondere an der Schule ist, dass es ein College ist und keine Hochschule, so wie wir sie kennen. Wir schließen erstmal unsere Schule ab und gehen dann auf die Hochschule. Dort auf dem College lernen sie Lesen usw. und machen dann ihren High-School-Abschluß. Das Besondere ist wahrscheinlich, dass diese Mischung aus Schule und Musicalausbildung wie z.B. Tanz, Schauspiel und Gesang eine ganz solide klassische Ausbildung ist. Es gibt die klassischen Instrumente und den klassischen Gesang, alles das wird dort gelehrt. Und diese Mischung gibt es in Deutschland nicht. Es gibt bei uns nur die Staatlichen Hochschulen, die diese klassische Ausbildung machen und die privaten Musical-Schulen in verschiedenen Städten.

Musical-World: Spielt FAME evtl. noch einmal in der nächsten Saison?

Kai Tietje: Nein, das geht bei uns gar nicht, weil wir die nächsten zwei Musicals schon auf dem Plan haben. Wir machen demnächst Cy Colemans The Life und Strike up the Band von Gershwin, das ganz selten gespielt wird. Hier wird es eine Arrangement-Diskussion geben, weil es keine moderne Inszenierung gibt und wir die alten Arrangements eigentlich so spielen müssten.

Musical-World: Hat man überhaupt Interesse, ein Musical modern zu inszenieren – wie manchmal eine Oper?

Kai Tietje: Da ist das Musical eigentlich traditioneller. Selbst am Broadway werden viele der großen Shows in einem traditionellen Bühnenbild gemacht – also nicht modern oder abstrakt.
Man will ja wie hier bei FAME keine großen Aussagen machen sondern vor allem unterhalten. Natürlich gibt es ernste Momente und ich finde es auch schön wenn sich Charaktere klar mit ihren Problemen zeigen. Aber man will nicht wie beim Parzival darauf achten, dass man als Regisseur oder Bühnenbildner noch mal eine zusätzliche Aussage drauflegt, die nicht ohnehin schon da ist. Es ist bei der Oper seit 60-70 Jahren in Deutschland Tradition, noch eine Zusatzaussage oder eine Aktualisierung über das Bühnenbild zu erzeugen. Das sieht man im Musical meistens nicht.
Unser Schalke-Musical Nullvier hat super funktioniert in einem relativ abstrakten Bühnenbild, was mich sehr verwundert hat. Das war eigentlich nur eine blaue Wand, die schräg durchging und hin und wieder auf und zu ging und natürlich kleine Elemente, die eine Szene darstellten. Das war für ein Musical relativ modern.

Musical-World: Ist noch eine Aufführung von Nullvier in der Arena auf Schalke geplant?

Kai Tietje: Vor kurzem gab es diese Pläne noch. Aber ich glaube, die sind jetzt gerade unter den Tisch gefallen, weil es doch zu teuer wird. Es war geplant, in der Endphase der Fußball-Weltmeisterschaft das Stück zu spielen, aber das Wagnis ist einfach zu hoch. Man hätte zur Kostendeckung 40.000 Zuschauer haben müssen. Es wäre ein Risiko, das dieses Theater einfach nicht tragen kann. Das Theater hat nicht die Mittel und Schalke ist auch nicht bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen.

© Interview & Fotos by Stephan Drewianka; Eine gekürzte Version dieses Interviews lesen Sie ebenfalls in der Zeitschrift BLICKPUNKT MUSICAL, Ausgabe 04/05, Juli-August 2005

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