Das Molekül in Bielefeld
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Uraufführung des Musicals „Das Molekül“ in Bielefeld

Wettlauf um den Medizin-Nobelpreis

William Ward Murta ist nicht nur seit 1984 Kapellmeister und Arrangeur am Theater Bielefeld, sondern komponierte bereits erfolgreich vier Musicals. 1987 hauchte er in „M… wie Marilyn“ der Monroe erotische Worte über die Lippen, 2004 ließ er den Sternenboten Galileo Galilei mit seinem Fernrohr in „Starry Messenger“ weit, weit entfernte Galaxien entdecken und 2010 beleuchtete er die angespannte Beziehung von Alfred Hitchcock zu seiner Star-„Lieblingsblondine“ Tippi Hedren, der Mutter von Melanie Griffith, in „The Birds of Alfred Hitchcock“. Für „Das Molekül“, das als Auftragswerk des Theaters Bielefeld am 19.05.17 Weltpremiere feierte, stammen Buch, Songtexte und Musik von William Ward Murta.

Die Entstehung des Musicals Das Molekül

Schon 2010 beschäftigte Murta sich mit dem Thema Gentechnik und fand den Charakter des Wissenschaftlers James D. Watson in einer BBC-Dokumentation über die Aufklärung der Struktur der DNA-Doppelhelix amüsant und spannend. Die Idee, ein Musical über die Erforschung der Erbsubstanz und die Entschlüsselung des genetischen Codes zu schreiben, war geboren. Es stellte sich heraus, dass das Forscherleben von Watson und Crick sowie der tragischen Figur der Wissenschaftlerin Rosalind Franklin, die durch die Analyse von Röntgenstruktur-Fotos die eigentliche Entdeckerin der Struktur der Erbsubstanz war, aber durch ihre Arbeit viel zu früh an Krebs gestorben ist, alles andere als langweilig ist. In seinem Musical wollte Murta nicht nur die Aufklärung der Struktur des „Moleküls“ 1951-1962 beschreiben, sondern einen weiteren Meilenstein der Gentechnik, die komplette Entschlüsselung der gesamten Erbinformation des Menschen 1997-2000, musikalisch verarbeiten. Seine erste Intention, diese beiden Ereignisse getrennt in zwei Akten abzuarbeiten, verwarf er aus künstlerisch-biologischen Aspekten: die Desoxyribonukleinsäure besteht aus vier Basen, die paarweise wie die Stufen einer Wendeltreppe sich um eine Achse drehen, der Doppelhelix. Und genauso sollte das Musical auch aufgebaut sein: zwei ineinander verwobene Handlungsstränge mit Darstellern, die in jeder Zeitebene zwei Rollen verkörpern, die sich um ein zentrales Thema drehen.


Handlung: Wissenschaftskrimi über die DNA

Im Jahre 1951 forschen in London gleich mehrere Arbeitsgruppen an der Strukturaufklärung des DNA-Moleküls. Am King’s College geraten die Biophysiker Rosalind Franklin und Maurice Wilkins immer wieder in Kompetenzstreit. An der Universität Cambridge stellt sich der junge Amerikaner James D. Watson bei Francis Crick und seiner Frau Odile vor. Auch der renommierte Physiker Linus Pauling will die Molekülstruktur aufklären und setzt beide britischen Teams dadurch gehörig unter Zeitdruck: das Wettrennen um das Abenteuer Forschung hat begonnen, und so bauen Watson und Crick ihr Molekül-Modell, das von Rosalind Franklin aber als grundlegend falsch eingestuft wird. Sie findet in einem Röntgenstruktur-Foto schließlich die entscheidenden Hinweise darauf, wie das Molekül tatsächlich aufgebaut sein kann. Pauling publiziert seine Version der DNA in der Zeitschrift Nature, doch Watson und Crick entdecken Fehler in seiner Theorie, der die beiden weiter im Rennen lässt. Wilkins verschafft beiden Forschern hinter Rosalinds Rücken Zugang zu deren Forschungsergebnissen und anhand ihres Fotos 51 entwickeln beide die tatsächliche Struktur der DNA-Doppelhelix mit den gepaarten Basenpaaren als Stufen einer Wendeltreppe, die außen durch Zuckerbausteine stabilisiert wird. 1962 erhalten beide den Medizin Nobelpreis in Stockholm, wohl wissend, dass eigentlich Rosalind Franklin, die fünf Jahre zuvor einer Krebserkrankung durch Röntgenstrahlung gestorben ist, den Löwenanteil an der wissenschaftlichen Auszeichnung verdient hätte. Watsons Vision, nach der Struktur nun den genetischen Code des menschlichen Erbguts zu entschlüsseln, gibt er 1997 aus Altersgründen an Francis Collins ab. Das staatlich geförderte Human Genome Project in Cold Spring Harbor hat in Craig Venter, dem Leiter des Instituts für Genomische Forschung in Maryland einen ernsthaften Konkurrenten, der mit der kommerziellen Unterstützung von Mike Hunkapiller der Firma Perkin-Elmer, die ihm 300 Analysegeräte zur Verfügung stellt, das Projekt wesentlich schneller vorantreiben kann. Venters Firma Celera Genomics tritt offen in Konkurrenz zur staatlichen Einrichtung und das Wettrennen, wer zuerst die 3 Milliarden Basenpaare des menschlichen Genoms entschlüsselt, hat begonnen. US-Präsident Clinton kann im Jahr 2000 verkünden, dass Celera Genomics das Human Genome Project um wenige Wochen geschlagen hat und den Meilenstein der Forschung erreicht hat…

Wie bereits erwähnt, spielen sich im Musical in der Inszenierung von Thomas Winter beide Zeitebenen gleichzeitig bzw. im thematischen Wechsel ab, und wie in der DNA sich die Basenpaare Adenin und Thymin bzw. Guanin und Cytosin gegenüberstehen und eine Einheit bilden, verkörpert in „Das Molekül“ jeder Hauptdarsteller je eine Person in jeder Zeitebene. Was sich recht kompliziert anhört, funktioniert auf der Bielefelder Bühne dank der gut eingesetzten Drehbühne und den Kulissen und Kostümen von Ulv Jakobsen und der gut besetzten Darsteller erstaunlich gut, erfordert vom Zuschauer trotzdem einiges an Aufmerksamkeit. Zwischen den kleinen Forschungslaboren in Cambridge und dem King‘s College, die im Licht von Johann Kaiser passend zu den Kostümen in Primärfarben ausgeleuchtet werden, und den wesentlich weitläufigeren Räumen der Nationalen Gesundheitsbehörde haben die Darsteller so manchen schnellen Kostümwechsel zu absolvieren.


Prominent besetzte Musical-Darsteller

Die prominent besetzten Musical-Darsteller überzeugen restlos in beiden Rollen. Roberta Valentini präsentiert als Rosalind Franklin eine resolute und emanzipierte Wissenschaftlerin, die für ihre Arbeit nicht nur das Privatleben komplett aufgibt, sondern sogar das eigene Leben. Ihr gehen Worte wie „Desoxyribonukleinsäure“ und „Röntgenstrukturanalyse“ fehlerfrei über die Lippen und sie weiß auch eine Pipette richtig zu halten. Den Song „Foto 51“ hat William Ward Murta buchstäblich für Roberta Valentini geschrieben, ein Wendepunkt in der Geschichte, der grandios dargeboten wird. 50 Jahre später schlüpft Roberta Valentini in die Rolle der Claire Fraser, die als rechte Hand Craig Venter bei der Finanzierung der Genomsequenzierung unterstützt. Venter ist als geldgieriger Firmenchef und Gegenspieler der staatlichen Forschung der „Bösewicht“ und gleichzeitig der Erzähler im Stück und wird mit Glatze und Bauch vom eigentlich zu jugendlichen Thomas Klotz gespielt. Seine zweite Rolle ist mit Linus Pauling eher klein, jedoch hat er als ausgeflippter Physiker eine dankbare Tanzsequenz in der Choreografie von Frank Wöhrmann mit den Damen des Opernchores, der die doch ernste Handlung ähnlich wie der „King Herod‘s Song“ in „Jesus Christ Superstar“ fulminant auflockert. Veit Schäfermeier schlüpft in den sympathischen Charakter von Francis Crick, dessen erste Versuche, eine Doppelhelix zu konstruieren, nicht annähernd die Realität widerspiegeln. In den 1990er Jahren spielt er den Leiter des Human Genome Projects Francis Collins, der gegen Venter den Wettlauf um die Sequenzierung des menschlichen Genoms verliert. Wenn Crick so eine Spürnase wie Sherlock Holmes gewesen wäre, wäre sein Watson eben James D. Watson gewesen, der von Carlos H. Rivas auch mit Karo-Sakko eben diesen Eindruck vermittelt. Carolin Soyka ist als Odile Crick die harmonische weibliche Unterstützung des Duos Watson und Crick, die die beiden mit menschlicher Wärme unterstützt und Mut zuspricht, wenn mal wieder die Forschungsergebnisse im Mülleimer landen. Als Bernadine Healy ist Carolin Soyka die Chefin der Gesundheitsbehörde. Alexander Franzen ist Maurice Wilkins vom King’s College, der Rosalind Franklin als Frau in einer Männerdomäne nicht traut und deren Forschungsergebnisse heimlich Watson und Crick zeigt.Als Gönner der Firma Perkin Elmer Mike Hunkapiller hat er nur die wirtschaftliche Ausschlachtung der Forschungsergebnisse im Sinn. Doch im Prolog des Stückes, wenn Craig Venter mit dem Opernchor im Song „Was ist Leben?“ über die Anfänge der klassischen Vererbungslehre in einem historischen Rückblick informiert, darf Alexander Franzen den gemütlichen Mönch Gregor Mendel darstellen, dessen Zuchtexperimente von grünen und gelben Erbsen und deren dominant-rezessive Weitergabe von Erbinformationen die Grundlagen der modernen Genetik lieferten.

Nominierung für den Deutschen Musical Theater Preis 2017

„Das Molekül“ ist für mich als promovierter Biochemiker ein phantastisches Beispiel dafür, wie abwechslungsreich das Genre Musical sein kann und über welche Themen man heute ein Musical komponieren kann. William Ward Murta hat den auf den ersten Blick spröden und langweiligen Wissenschaftlern nach fundierter Recherche glaubhaft Leben eingehaucht. Er bedient sich dabei einer musikalischen Sprache, die mit dem opulent besetzten Orchester der Bielefelder Philharmoniker an epische Filmmusik erinnert, bei der der gesungene Text im zentralen Vordergrund steht und so beim ersten Hören wenig Ohrwurmcharakter vermittelt. Mit wundervollen Balladen, jazzigen Ausflügen und einer fulminanten Tanznummer ist dem Komponisten aber ein abwechslungsreicher Soundtrack gelungen, den man gerne auch auf CD genießen würde. Mit fünf Nominierungen für den Deutschen Musical Theater Preis 2017 in den Kategorien Beste Komposition, Beste Liedtexte, Bestes Musikalisches Arrangement, Bestes Bühnenbild und Beste Darstellerin in einer Hauptrolle zeigt sich die hohe Qualität der Bielefelder Produktion. Der Erfolg dieses Musicals wird nur gebremst durch die Vorurteile der Musical-Zuschauer, die in der Schule mit Schrecken an den Chemie- und Biologie-Unterricht zurückdenken und sich in ihrer Freizeit bestimmt keine Nachhilfestunde in Genetik wünschen. Aber „Das Molekül“ ist eben eine spannende Entdeckungsreise in die Welt der Wissenschaft, in der „echte“ Menschen gegen Mobbing, Missgunst und Eifersucht ohne Romeo und Julia Romanze für ein hohes Ziel kämpfen, wobei das Stück ethische Fragen bewusst ausklammert, im Epilog aber den Zuschauern als Denkanstoß auf den Weg nach Hause mitgibt.

Alles zum Musical Das Molekül bei Sound Of Music!

© Text und Schlussapplausfotos: Stephan Drewianka; Prodtktionsfotos: Bettina Stöß