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Festgepoppt: Wenn Mann den Stecker nicht mehr aus der Dose bekommt…

Deutsche Erstaufführung des Musicals „Festgepoppt“ am Katielli-Theater Datteln

Er trifft Sie in der Disco. Es wird etwas geflirtet und schon landet man gemeinsam zu einem Schäferstündchen auf der Toilette. Doch aus dem einvernehmlichen Quickie wird schnell eine verhängnisvolle Affäre. Denn Er steckt fest. Wie siamesische Zwillinge (O.K. dieser Vergleich hinkt) schleppt sich das innig verbundene Pärchen ins Krankenhaus und wartet dort eine gefühlte Ewigkeit auf den Doktor, der die beiden wieder trennen soll. Die resolute Krankenschwester ist bei der langen Warterei auch keine Hilfe und so kommen sich die beiden Unbekannten zwangsläufig auch emotional endlich näher.

Das spanische Musical Pegados“ von Ferrán Gonzáles und Alicia Serrat feierte bereits 2010 seine erfolgreiche Premiere in Barcelona und steht seitdem permanent irgendwo in Spanien auf dem Spielplan eines kleinen Theaters. In der Übersetzung von Hartmut H. Forche und Jaime Roman Briones kam das Stück unter dem klangvollen Titel „Festgepoppt“ unter der Regie von Bernd Julius Arends und Katharina Koch im intimen Katielli-Theater in Datteln am 10. April 2016 zur deutschsprachigen Erstaufführung.

Vielleicht fragen Sie sich jetzt, ob „Das andere Musical“ wie es sich im Titelzusatz präsentiert, nach Ihrem Geschmack ist? Denn was kann schon groß mit zwei ineinander verkeilten Menschen passieren, die über zwei Stunden auf einer Krankenbahre liegen?

Haben Sie eine voyeuristische Ader? Dann hat Sie sicher gleich der Titel und das Plakat des Musicals angesprochen, geht es in diesem Stück doch eindeutig um das Thema Sex. Oh ja, da hat „Festgepoppt“ eine Menge zu bieten. Denn schon nach weniger als 5 Minuten gibt es den ersten Höhepunkt! Und dann liegen zwei sehr attraktive Darsteller praktisch die ganze Zeit fast nackt herum. Und singen über männliche und weibliche Masturbation mit und ohne Sexspielzeug und wer dabei die Nase vorn hat. 

Oder Sie sind der wissenschaftliche Analytiker, der fasziniert das Pärchen beobachtet, wie es von einer Kamasutra-Stellung zur nächsten wechselt und fragen sich, ob das technisch überhaupt möglich ist, wenn sein „Dübel“ im vaginalen Vakuumverschluss der Dreh- und Angelpunkt der akrobatischen Verrenkungen ist. Wenn die beiden dann auch noch in graziler Choreografie ein Tänzchen wagen, bleibt den Zuschauern fast der Mund offenstehen.

Moment mal, Sie sind begeisterter Musicalfan, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Und „Festgepoppt“ ist ja ein Musical unter der musikalischen Leitung von Mario Stork. Demnach wird gesungen und zwar auf hohem Niveau, mal abgesehen davon, dass die tiefen Töne der Krankenschwester „Flat-Titis“ hervorrufen können. Der eigentliche Kick besteht aber darin, dass Sie als Zuschauer die vielen textlichen und musikalischen Anspielungen auf die großen Musical-Vorbilder herausfinden. Wer genau hinhört, findet Hinweise auf einen verunstalteten Komponisten, eine Stummfilmdiva mit eifersüchtiger Haushälterin, eine Kaiserin mit majestätischem Raub- und anderen Kätzchen, Blutsaugern, Wassernixen, grünen Hexen, schönen Biestern, vietnamesischen Kriegsveteranen und Boxern, Lokomotiven, Gralssuchern und New Yorker Banden beim Musical-Casting, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Cineasten begegnen als gratis Zugabe noch mindestens einem blutrünstigen Raubfisch, einem krankhaften Warmduscher und einem Luxus-Liner „on the rocks“.

Wenn ihnen das nicht reicht und Sie ein Quizspezialist sind, spielen Sie mit unserem Pärchen das in Spanien sehr erfolgreiche Fernsehduell „Pasapalabra“, bei dem die Antwort auf eine mehr oder minder komplizierte Frage mit einem Buchstaben von A bis Z beginnt. Wer passt, muss „Passapalaver“ (oder so ähnlich) sagen und der Gegner ist dran, bis der Gewinner beim Buchstaben Z angekommen ist.

Und sollten Sie Hobby-Psychologe sein, analysieren Sie doch die verkorkste Kindheit von „ihm“, das gestörte Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern oder gleich komplett den Hypochonder-Doktor. Sie dürfen Mitleid heucheln, Tränen verdrücken oder lauthals lachen – natürlich immer schön der Reihe nach.

Da Sie immer noch diesen Text lesen, vermute ich, dass Sie weiterhin Interesse an „Festgepoppt“ haben? Gratulation, dann sind Sie keine moralapostolische Spaßbremse und können mit diesem Musical eine ganze Menge Freude haben! Denn der Humor wird in Datteln großgeschrieben. Anders als in Spanien übernimmt Theaterleiter Bernd Julius Arends die (mehr oder weniger) weibliche Rolle der Krankenschwester. Schon zu Beginn des Stückes gibt es sehr resolute Anweisungen über die Verhaltensregeln eines Theaterbesuchers was Handynutzung, Husten und andere menschliche Bedürfnisse während der Vorstellung angeht. Im Stück macht Herr Arends immer eine wohlproportionierte Figur, egal ob er eine Urinprobe nehmen will, Fieber misst, als Süßigkeiten-Automat mechanische Anweisungen gibt oder als lebende Werbetrommel für ein ortsansässiges Restaurant Werbung macht. Als Sahnehäubchen spielt er zusätzlich die beiden dialektbelasteten Mütter unserer beiden Hauptakteure. Im zweiten Akt wird der gesungene Ausruf: „Ich glaub, ich hör da meine Mutter“ garantiert Ihr Lieblingsspruch.

Gegen die geballte Frauenpower eines Bernd Julius Arends hat es die eigentliche „Sie“ des Stückes vermeintlich schwer. Doch Rosaly Oberste-Beulmann, den Katielli-Kennern schon bestens bekannt aus „Heiße Zeiten“ oder „Blutsbrüder“, ist eine emanzipierte, taffe junge Dame, die mit Worten genauso gut umzugehen weiß wie mit dem Vibrator. Ihr „Er“ ist Fin Holzwart, der zuvor in „Thrill Me“ zwar noch einem männlichen Verbrecher den Kopf verdrehte, nun aber auch unter einer Frau eine gute Figur macht. Beide Darsteller überzeugen nicht nur schauspielerisch mit dem Gespür für das richtige Timing ihrer zahlreichen Pointen und einer herrlichen Mimik, sondern harmonieren zudem gesanglich perfekt in der spanischen Original-Partitur, die mit einigen schönen Melodien und einem wohlklingenden Liebesduett aufwarten kann, das eigentlich nicht im Textbuch steht. Mario Stork sorgt am Klavier dafür, dass man einige Lieder tatsächlich als Ohrwurm mit nach Hause nimmt, denn textlich brennen sich Zeilen wie „Wenn es Nacht wird, wird es Nacht“ schnell ins Gedächtnis ein. In seiner kleinen, aber feinen Rolle als Doktor trennt er schließlich die innig Verbundenen zu den Klängen von Ravels Bolero (naja nicht ganz, denn die Krankenschwester beherrscht am Klavier leider nur zwei Töne). Aber voneinander getrennt fehlt unseren beiden tapferen Helden plötzlich je ein Standbein…

„Festgepoppt“ ist Klamauk in Perfektion ohne in billigen Slapstick zu verfallen. Dank der großartigen Leistung der Darsteller wirkt die skurrile Handlung nicht aufgesetzt und ist trotz aller Freizügigkeit nie vulgär oder peinlich. Dank einer genialen Übersetzung, bei der sich das Stück oft sogar selbst auf den Arm nimmt, entwickelt sich unter der Oberflächlichkeit eines One-Night-Stands schnell eine tiefgründige Liebesgeschichte, die die Figuren in Gesprächen schnell viel weiter entblättert, als es ein weißes Bettlaken verdecken kann.

Da die Uhr im Wartezimmer defekt ist, fragen sich nicht nur die Hauptdarsteller, ob tatsächlich so viel Zeit vergangen ist oder ob der Herr Doktor bereits nach 5 Minuten das Behandlungszimmer betreten hat. Das Katielli-Theater beweist nach der deutschen Erstaufführung von „Thill Me“ erneut ein feines Gespür bei der Auswahl von in Deutschland unbekannten Musicals, die sich als wahre Perlen entpuppen und eine längere Spielzeit verdienen. Prädikat: wieder einmal „besonders empfehlenswert“!

Informationen über Spieltermine und Eintrittskarten erhalten Sie auf der Homepage des Katielli-Theaters!

© Text & Fotos: Stephan Drewianka

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