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„Barricade“-Tourneestart in der Stadthalle Kassel

Auf die „Barricade“: ein neues „Les Miz“-Musical auf Tournee

Der Historienroman „Die Elenden“ von Victor Hugo inspirierte die Franzosen Claude-Michel Schönberg (Musik) und Alain Boublil (Texte) zu ihrem Meisterwerk „Les Miserables“. Seit 1985 ist das Musical weltweit ein Hit, wurde 2012 mit Starbesetzung verfilmt und hat auch in Deutschland unzählige Fans, die sich sehnlichst eine neue Aufführung im deutschsprachigen Raum wünschen. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sich ein neues Autorenteam ähnlich wie beim „Phantom der Oper“, von dem es mittlerweile einige Musicalversionen gibt, ans Werk macht, die Geschichte um Jean Valjean und Inspektor Javert neu zu vertonen. Esther Hilsberg, Opernsängerin und Komponistin vieler Kinderopern („Die Schneekönigin“, „Die chinesische Nachtigall“), Chorwerken („Dantes Inferno und der Weg ins Paradies“) und Filmmusiken („Nice places to die“) schrieb eine neue Partitur für die Elenden, Holger Potocki und Bianca Hein hauchten den Charakteren mit ihrem Libretto Leben ein. Zusammen mit ihrer Schwester Inga gründete Esther Hilsberg 1996 die Kammeroper Köln, zu der sich 2011 mit „My Fair Lady“ auch das Genre Musical gesellte, das seit 2014 unter dem eigenen Namen „Deutsche Musical Company“ fungiert. Das Musical „Barricade“ feierte am 05.11.16 Premiere im Pulheimer Walzwerk. Nach 13 Vorstellungen schickte die Highlight Concerts GmbH dieses Stück ab dem 15.01.17 auf Deutschland-Tournee, allerdings unter dem Namen „Les Miserables“ mit zunächst irreführender Werbung, die dem Ticketkäufer suggerierte, hier Karten für das Musical von Boublil/Schönberg zu kaufen. Die Werbestrategie wurde mehrmals geändert, bis endlich korrekt von einer „Musical-Neuproduktion nach der deutschen Romanvorlage „Die Elenden“ von Victor Hugo“ geworben wurde.

Die Handlung und Figuren der Neuinszenierung Barricade

Im Kongress Palais Kassel startete die Tour von „Les Miserables“. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Liebesgeschichte um Marius und Cosette. Das Stück beginnt mit dem Tod von Fantine, in Kassel mit klassischer Stimme verkörpert durch die Komponistin Esther Hilsberg selbst. Bürgermeister Madeleine (Andrea Matthias Pagani) hat der Sterbenden versprochen, ihr Kind Cosette von dem Wirtshauspaar der Thenardiers (Markus Lürick und Ulrike Jöris) zu holen, doch Inspektor Javert (Pieter Tredoux) erkennt im Bürgermeister den gesuchten Verbrecher Valjean, der jedoch entkommt. Jahre später in Paris 1832: Student Marius (Marc Lamberty) sagt sich von seinem Onkel Gillenormand (Tobias Strohmaier) los und trifft sich im Jardin du Luxembourg mit anderen Studenten, die unter Enjolras (Michael Thurner) eine Revolution planen. Dort sieht er flüchtig Cosette (Marilyne Bäjen), in die er sich sofort verliebt. Die Thenardiers planen mit Tochter Eponine (Lara Grünfeld) Valjean um sein Vermögen zu bringen, wobei auch Javert seinen Erzfeind wiedererkennt. Valjean will nach England fliehen, doch Marius möchte Cosette heiraten und schickt Gavroche (Wibke Wittig) mit einem Brief los, den jedoch Valjean liest. Er will Marius, der auf den Barrikaden kämpft, sicher zu Cosette bringen. Dort trifft er auf Javert, der von den Studenten exekutiert werden soll und verhilft ihm zur Flucht, woraufhin er Selbstmord begeht. Marius wird schwer verwundet. Thenardier sieht Valjean mit der „Leiche“ und hat erneut einen Grund zur Erpressung. Das Gaunerpaar taucht auf der Hochzeit von Marius und Cosette auf, doch Valjean hat Marius bereits gestanden, dass er ein Sträfling war und hat die beiden verlassen. Als Marius erkennt, das Valjean ihn von den Barrikaden gerettet hat, eilt das Brautpaar zu dem kranken Valjean, der nach der Aussöhnung stirbt.

Verwirrende Handlung und bescheidene Ausstattung

Christian Stadlhofer („Ein Lied von Freiheit“) führt Regie und zeichnet sich für die Choreografie verantwortlich. Leider gelingt es ihm nicht, die komplexe Story verständlich zu erzählen. Als Zuschauer benötigt man fundiertes Vorwissen, um der lückenhaften Geschichte wirklich folgen zu können. Der Fokus weg von Javert und Valjean, die nur als Nebenfiguren auftreten, reißt zu viele Löcher in die verworrene Liebesgeschichte und zu viele Fragen bleiben offen. Wer den Roman oder das Schönberg/Boublil-Musical kennt, kann noch Gefallen daran finden, die bekannte Geschichte aus einem neuen Blickwinkel zu erleben. Alle anderen Zuschauer, die erstmalig mit der französischen Geschichte konfrontiert sind, werden sich in der Vielzahl an Charakteren verlieren, deren tiefgründige Beziehung zueinander in 120 Minuten nur angekratzt werden kann. Das adelige Ehepaar Gillenormand, das als Gegenpol zu Neffe Marius besser den politischen Hintergrund der Studentenrevolte verdeutlichen sollte, verkommt im Stück zu einem albern-überkandidelt-schrillem Buffo-Pärchen ohne wirklichen Sinn und Zweck. Das einfache Bühnenbild von Jörg Brombacher beschränkt sich auf eine Gerüstkonstruktion mit drehbaren Wänden, die in ihrer Sterilität eher an moderne Straßensperren und Drehkreuze erinnert als an die Möbel-Barrikaden der Studentenaufstände. Auf einer Leinwand werden wohl eigentlich Pariser Straßenzüge eingeblendet, doch versagte in der besuchten Vorstellung leider die Projektionstechnik größtenteils. Die Kostüme von Thomas Kaiser sind bunt und hübsch anzusehen. Zwar spiegelt die Kleidung der revolutionären Studenten sehr schön die französische Flagge in blau-weiß-rot wider, da die Herren aber Jeans tragen, passen sie optisch besser in eine „West Side Story“.

Licht und Schatten bei Musik, Gesang und Komposition

Die musikalische Seite hat ebenfalls Licht- und Schattenseiten. Das Kölner Symphonieorchester ist gut besetzt und sorgt unter der musikalischen Leitung von Inga Hilsberg für wunderschönen, klassischen Sound mit Geigen und Harfe, die an epische Filmmusik heranreicht. Die Liebesballaden sind Höhepunkte und gefallen als Leckerbissen in einer ansonsten recht kompliziert komponierten Partitur, die nicht im Ohr bleibt und auch textlich nicht immer überzeugen kann. Einige Lieder werden mehr oder weniger komplett auf Französisch gesungen, was bei den übrigen deutschen Songtexten unnötige Verwirrung stiftet. Die Darsteller sind hingegen ausnahmslos gut besetzt und überzeugen darstellerisch wie gesanglich auf hohem Niveau ohne Ausnahme. Insbesondere Marilyne Bäjen („Im Jardin du Luxembourg“) und Marc Lamberty („Ich will Dich wiedersehen“) überzeugen als Liebespaar durch kraftvolle Stimmen im Duett „Auf weichen Wolken“ und Lara Grünfeld als verschmähte Eponine setzt mit „Ich liebe Dich“ Akzente.

Barricade keine überzeugende Variante von Les Miserables

Barricade“ erreicht leider bei weitem nicht das Niveau von Boublil/Schönbergs „Les Miserables“. Dazu müsste das Konzept der Show mit ihrer miserablen Erzählweise zumindest durch Dialoge massiv erweitert werden. Zumindest bei der Hochzeit und dem anschließenden Finale wird das Lügengerüst der Thenardiers verständlich erklärt und auch das Motiv von Valjean, seine Ziehtochter in Zukunft durch seine Vergangenheit in Gefahr zu bringen, kommt deutlich herüber. Schade, dass dies erst so spät im Musical passiert, sind doch einige Zuschauer bereits in der Pause gegangen. Die Grundidee, „Les Miserables“ einmal völlig anders zu erzählen, ist eigentlich spannend und genau der richtige Weg, um sich vom „Original“ abzuheben. Vielleicht kann durch eine Generalüberholung des Stückes viel gewonnen werden, denn „Barricade“ hat durchaus Potential.

Alles zum Musical Barricade im Sound Of Music Shop!

© Text: Stephan Drewianka, dieser Artikel erschien ebenfalls in der Musical-Fachzeitschrift Blickpunkt Musical, Ausgabe 86 (01/17), Januar-März 2017; Fotos: actorsphotography by Rolf Franke