Grimm in Kassel © Stephan Drewianka
Grimm in Kassel © Stephan Drewianka
Sie befinden sich hier: Theater / Amateure & Semiprofis / A-G / Grimm
Theater




Anzeige


Anzeige
Anzeige
Anzeige
Anzeige


„Grimm! – Die wirklich wahre Geschichte von Rotkäppchen und ihrem Wolf“ von Studio Lev in Kassel

Ein Schwein im Wolfspelz

In der Heimat der Gebrüder Grimm in Kassel ist man stolz auf die Märchenerzähler, auch wenn die beiden Brüder die meisten Geschichten gar nicht selbst erfunden haben, sondern nur von der eigentlichen Erfinderin Dorothea Viehmann nacherzählt und aufgeschrieben haben. Was wäre, wenn ihnen dabei so einige Fehler unterlaufen wären? Wenn Rotkäppchen eigentlich viel lieber Dorothea genannt werden würde und das langweilige, aber sichere Dorfleben für einen aufregenden Waldspaziergang trotz aller Warnungen von Schweinchen Schlau aufgibt? Denn im Wald lebt der böse Wolf, dort ist auch irgendwie die weise Oma Eule verschollen. Aber der böse Wolf ist eigentlich ein cooler und sogar netter Typ, aber wird man ihn im Dorf mögen? Mama Geiß zumindest vertraut dem Wolf ihre Geißlein an, aber waren es nun sieben Geißlein und der Babysitter hat eins verputzt, oder waren es vielleicht doch nur von Anfang an sechs? Verliebt sich Schweinchen Dick, die doch gar nicht so runde Schweinelendchen hat, in ein Wildschweinchen und gibt Schweinchen Doof den Laufpass? Gelingt es Schweinchen Schlau, der zwar hinterlistig aber darüber hinaus nicht sehr helle ist, Bürgermeister Sultan zu stürzen? Welches Geheimnis hütet Hund Rex in Bezug auf wilde Wölfe? Haben Drogen Oma Eules Geist vernebelt oder sind ihre Sprüche nicht nur alternativer Hippie-Kram, sondern beruhen auf tibetanischen Grundsätzen einer harmonischen Weltordnung?

All das versucht das unterhaltsame Musical von Peter Lund (Text) und Thomas Zaufke (Musik) herauszufinden. Die deutsche Erstaufführung von „Grimm“ im März/April 2015 bestritten Absolventen des 3. Jahrgangs Musical/Show der Berliner Universität der Künste in unserer Hauptstadt. Das Ensemble des Studio Lev Kassel e.V. führt diese Tradition mit jungen Darstellern fort und zeigte vom 24.08.16 bis 04.09.16 im Kulturhaus Dock 4 ihre ganz eigene Interpretation dieses märchenhaften Stoffes. Janis Knorr (Regie) gelingt es, aktuelle Themen zu verarbeiten und zeigt, wie leicht geschürte, irrationale Ängste mit leichtfertiger Meinungsbildung zu Fremdenhass führen können. Die Moral der Geschichte ist aber so raffiniert verpackt, dass sich die Zuschauer bestens unterhalten fühlen dürfen. Dafür sorgt eine fünfköpfige Live-Band unter der musikalischen Leitung von Christian Köhn, die im hinteren Teil der Bühne präsent sind und den 13 Darstellern richtig einheizen.

Die 16-jährige Berlinerin Yasmina Hempel überzeugt als sympathisches Rotkäppchen, ähm Entschuldigung, als aufgeweckte Dorothea mit fundiertem Schauspiel und grandiosem Gesang. Dennis Marställer merkt man zwar noch eine gewisse Nervosität bei seiner ersten Rolle als Grimm an, jedoch überzeugt sein animalisch-wildes Spiel mit dem gewissen Charme insbesondere Mascha Bodden als geile Gisela Geiss, die sich als überforderte, alleinerziehende Mutter und Hausgeiß tierisch auf eine Affäre mit dem Wolfsknäul freut. Knuffig in je einer Doppelrolle sind Melissa Bucan, Christian Biegler und Samantha Steinmetz als 11, 16 und 17-jährige Geißlein zu sehen, die beim Durchzählen eben doppelt zählen. Anna Hase verliebt sich als Schweinchen Dick in Wildi Hannah Wagner, die gemeinsam einen wunderbaren „Schwein-gehabt-Walzer“ anstimmen, der in dieser Konstellation zugleich ein Statement gegen Homophobie wird. Denis Riffel bleibt als Schweinchen Doof sehr liebenswert auf der Strecke und ist wahrlich ein bedauernswertes Würstchen (sein Timing für Pointen ist grandios). Julian Carly darf als Schweinchen Schlau so richtig bitterböse sein, während Susanne Blodt als Rex und Lisanne Schröder als Sultan ausgebootet werden. Und dann ist da noch Markus Schön als allwissende, weise Oma Eule, der als 21-jähriger Theologiestudent eine grandiose Travestie einer durchgeknallten Diva spielt ohne dabei peinlich zu wirken.

Alle Darsteller stecken, mal abgesehen vom Glitzerfummel Oma Eules, in kunterbunten Alltagsklamotten (Kostüm: Brigitte Schima und Alina Djusembenow), die farblich aufeinander abgestimmt sind. Die Frisuren sind es dann eher, die Wolf von Geiß und Hund von Schwein unterscheiden, ohne auf weitere Masken angewiesen zu sein. Die Bühne (Martin Holzhauer) kommt zudem fast vollständig ohne Requisiten aus, denn die Dorfbewohner haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, mit Gartenharken das Laub des Waldes (unzählige grüne Papierschnipsel) aus ihrer „Zivilisation“ zu verbannen, was ihnen aber nie vollständig gelingen mag. 

Dem Publikum hat „Grimm!“ im Kulturhaus Dock 4 so gut gefallen, dass die kurze Spielzeit durch (ausverkaufte) Zusatzvorstellungen ergänzt wurde. Zudem wurde Studio Lev Kassel e.V. Preisträger des Kulturförderpreises 2016 der Stadt Kassel. In Kooperation mit dem Staatstheater Kassel ist das Musical nochmal in fünf weiteren Vorstellungen vom 11.12.16 bis 16.02.17 im mehr Besucher fassenden tif zu sehen. Und so wird Oma Eules universelles Motto: „Liebhaben sollt ihr euch!“ weiterhin in der Märchenstadt Kassel erschallen.

© Text & Fotos: Stephan Drewianka

Anzeige